Das erste Gesetz der Magie - 1
Aber warum tat sie das? Und wenn er sich irrte? War vielleicht dies hier die Wahrheit?
Mit dem Finger suchte er die kleine Narbe über ihrer linken Braue und betastete die vertraute Erhebung. Er selbst hatte ihr die Narbe beigebracht. Zusammen mit Michael hatte er mit den Holzschwertern gespielt und war gerade vom Bett gesprungen und hatte dabei ebenso wild wie töricht nach seinem älteren Bruder geschlagen, als seine Mutter durch die Tür hereinkam. Er hatte sie mit dem Schwert an der Stirn getroffen. Ihr Schrei hatte ihm angst gemacht. Selbst die Prügel seines Vaters hatten nicht so geschmerzt wie der Gedanke an das, was er seiner Mutter angetan hatte. Sein Vater hatte ihn ohne Essen ins Bett geschickt. An jenem Abend war sie nach Einbruch der Dunkelheit gekommen, hatte sich zu ihm ans Bett gesetzt und war ihm mit den Fingern durchs Haar gefahren, während er geweint hatte. Er hatte sich aufgesetzt und gefragt, ob es sehr weh getan hatte. Sie hatte gelächelt und gesagt…
»Nicht so sehr wie dir«, flüsterte die Frau vor ihm.
Richard riß die Augen auf. Ein kalter Schauder lief über seinen Rücken. »Woher…«
»Richard.« Die Stimme von hinten klang ruhig und warnend. Er fuhr auf. »Bleib weg von ihr.« Es war Zedds Stimme.
Seine Mutter legte ihm die Hand auf die Wange. Er beachtete es nicht und drehte den Kopf, blickte die Straße zurück bis zur Anhöhe. Dort stand tatsächlich Zedd, zumindest glaubte er das. Er sah aus wie Zedd, andererseits sah die Frau auch aus wie seine Mutter. Dort stand Zedd, mit einem Gesichtsausdruck, den er kannte: dem Ausdruck kalter Gefahr, der Warnung.
»Richard«, war Zedds Stimme wieder zu hören. »Tu, was ich sage. Bleib weg von ihr. Sofort.«
»Bitte, Richard«, flehte seine Mutter, »verlaß mich nicht. Erkennst du mich denn nicht?«
Richard betrachtete ihre weichen Züge. »Doch. Du bist Shota.«
Er packte ihre Handgelenke, löste ihre Hände von seiner Hüfte und trat einen Schritt zurück. Sie legte traurig die Stirn in Falten. Den Tränen nahe sah sie zu, wie er sich entfernte.
Plötzlich wirbelte sie herum und sah den Zauberer an. Sie riß die Hände hoch. Mit einem ohrenbetäubenden Krachen schossen Blitze aus ihren Fingern und rasten auf Zedd zu. Sofort errichtete der Zauberer mit den Händen einen gläsernen Schutz, der das Licht mit seinem Glanz reflektierte. Shotas Licht prallte mit einem donnernden Scheppern zurück, wurde abgelenkt, streifte eine riesige Eiche und knickte deren Stamm ab. Ein Schauer von Spänen regnete herab. Der Baum krachte zu Boden. Die Erde bebte.
Zedd hatte die Hände bereits hochgerissen. Aus seinen gekrümmten Fingern schoß Zaubererfeuer. Kreischend raste es heran, rollte mit wildem Geheul durch die Luft.
»Nein!« schrie Richard.
Das gleißend blaugelbe Licht des flüssigen Feuerballs erhellte die Schatten.
Das durfte er nicht zulassen! Shota war der einzige Weg zu dem Kästchen! Die einzige Möglichkeit, Rahl zu stoppen.
Das Feuer breitete sich heulend aus und schoß genau auf Shota zu. Sie rührte sich nicht.
»Nein!« Richard riß das Schwert heraus und sprang vor sie. Mit einer Hand packte er das Heft, mit der anderen die Spitze und hielt es waagerecht vor sich wie einen Schild. Zauberkraft erfüllte ihn. Ihn packte der Zorn. Das Feuer hatte ihn erreicht. Das Donnern füllte seine Ohren. Er wendete das Gesicht ab, schloß die Augen, hielt den Atem an, biß die Zähne aufeinander und wartete auf den Tod. Er hatte keine Wahl. Die Hexe war seine einzige Chance. Er durfte nicht zulassen, daß sie starb.
Der Aufprall ließ ihn einen Schritt zurücktorkeln. Er spürte die Hitze. Selbst durch die geschlossenen Augen sah er das Licht. Mit wütendem Geheul prallte das Zaubererfeuer auf das Schwert und explodierte ringsum.
Und dann herrschte Stille. Er öffnete die Augen. Das Zaubererfeuer war verschwunden. Zedd vergeudete keine Zeit. Er schleuderte bereits eine Handvoll magischen Staub. Funkelnd kam er auf ihn zugeflogen. Richard bemerkte eine Bewegung hinter sich: Die Hexe schleuderte ebenfalls magischen Staub. Er glitzerte wie Eiskristalle und nahm Zedds Staub das Glitzern.
Zedd erstarrte, eine Hand in die Höhe gereckt, und regte sich nicht mehr.
»Zedd!«
Keine Antwort. Richard wirbelte zu der Hexe herum. Sie war nicht mehr seine Mutter. Shota trug ein schleierartiges Kleid in verschiedenen Grautönen auf der gazeähnlichen Oberfläche. Die Falten und losen Spitzen schienen in der leichten Brise zu fließen. Ihr
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