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Das erste Jahr ihrer Ehe

Das erste Jahr ihrer Ehe

Titel: Das erste Jahr ihrer Ehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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alles, was Margaret sich jemals vorgestellt hatte.
    Arthur fiel auf die Knie. Dianas Namen brüllend streckte er die Arme nach ihr aus, als könnte er noch, während sie sich in rasendem Tempo fünfzehn, fünfzig, hundert Meter von ihm entfernte, ihre Jacke zu packen bekommen. Als Arthur fiel, fielen sie alle – auf die Knie oder in die Hocke. Saartje war nach Arthur die Erste, die zu schreien begann, aber aus ihren Schreien wurde schnell Schluchzen. Margaret blieb stumm, selbst zu Eis erstarrt. Sie konnte Patrick nicht sehen, der hinter ihr war, aber der Träger vor ihr war in höchster Alarmbereitschaft. Arthur, weit vorgebeugt, die Arme zum Abgrund, nach seiner Frau ausgestreckt, war dem Wahnsinn nahe. Der Führer rutschte abwärts und packte ihn. Mit einer Hand hielt er Arthur fest, mit der anderen seinen Pickel, den er tief ins Eis schlug. Arthurs Brüllen wurde zu einem gutturalen Heulen. Es klang grauenvoll. Margaret senkte den Kopf auf die Knie.
    Innerhalb eines Augenblicks war es passiert. In wenigen Minuten wären sie über den Gletscher gewesen, und Diana, nun triumphierend, nicht mehr ungeduldig, hätte mit ihnen zusammen gefeiert. Der Gipfel wäre noch nicht erreicht gewesen, aber die schwierigste Hürde auf dem Weg zu ihm bewältigt. Margaret wollte nur das Rad zurückdrehen und den Moment, in dem Diana sich vom Seil losgemacht hatte, ungeschehen machen. Sie versuchte es immer wieder. Arthur schlug heulend und brüllend auf das Eis. Er schwankte hin und her in seiner wilden Klage, und sie schwankten mit ihm. Der letzte Träger in der Reihe wurde den Berg hinuntergeschickt, um einen Rettungstrupp zu mobilisieren. Sie hörten den Führer in sein Funkgerät sprechen, aus dem krächzende Antwort kam. Der Führer rief die Ranger von Top Hut herbei. Dann legte er sich mit seinem ganzen Körper über den schwankenden Arthur und sprach leise und ruhig auf ihn ein. Der Führer hatte nur eine Aufgabe – Arthur und den Rest der Gruppe über das Eis in Sicherheit zu bringen.
    Unendlich lang, so schien es, blieben sie, wie sie waren. Eine Minute war wie zwanzig Minuten. Margaret dachte an Diana mit ihren Hunden und ihren Kindern. An ihr überraschendes, strahlendes Lächeln. Daran, wie sie ihr in den Ngong Bergen beigestanden hatte. Es war jetzt lebenswichtig, Arthur heil auf die andere Seite zu bringen. Seine Kinder brauchten ihn. Margaret konnte sich den Schmerz des Mannes, das, was auf ihn wartete, nicht vorstellen.
    Sie wäre am liebsten über das Eis gekrochen, aber der Führer gebot ihnen, aufzustehen. Jeder von ihnen musste es irgendwie schaffen, aus prekärer Position und gleichzeitig mit den anderen, aufzustehen und dabei das Gleichgewicht zu halten. Jeder von ihnen musste sich Schritt für Schritt weiterbewegen, weg vom Ort des Unfalls. Jeder von ihnen, Arthur eingeschlossen, musste Diana in der Gletscherspalte zurücklassen. Arthur war von Sinnen vor Schock und Schmerz, alle anderen aber verstanden, dass Sicherheit jetzt oberstes Gebot war. Margaret bemerkte die Besorgnis des Führers, auch wenn er äußerlich ruhig war. Nur eine unbedachte Bewegung, und sie würden alle in den Tod stürzen. Die größte Gefahr war ein besinnungsloser Arthur, der in dem rasenden Verlangen, seine Frau wiederzufinden, jeden Moment von dem Steig springen konnte, den die Trittstufen bildeten. Die Pickel hätten der Drehkraft einer solchen plötzlichen ruckartigen Bewegung nicht standhalten können.
    Eine gespenstische Stille breitete sich in der Gruppe aus. Sie gingen so langsam und vorsichtig wie nur möglich. Margaret war nicht besonders fromm, aber sie betete das Vaterunser immer wieder herunter wie einen rituellen Gesang. Wenn sie es ohne Fehler aufsagen konnte, dachte sie, würden sie es auf die andere Seite schaffen.
    Erst als sie nur noch zehn Schritte von sicherem Boden entfernt waren, stieß hinter ihr Patrick mit einer Stimme, die den höchsten Gipfel des Berges erreichen sollte, einen unerhörten Schrei aus – einen Ruf, der hier und dort von den Felsen widerhallte, einen Schrei, der sie bis ins Mark erschütterte. Der Schrei galt Diana und Arthur. Später begriff Margaret, dass alles andere Patrick und ihr galt.

 
    A uf der anderen Seite des Gletschers riss Arthur sich vom Seil los. Er stürmte den Berg hinunter, als könnte er Diana vorauseilen und ihren Sturz abfangen. Willem erkannte sofort die Torheit dieser Reaktion – man kam auf dieser Seite des Gletschers nicht den Berg hinunter – und rannte ihm

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