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Das erste Jahr ihrer Ehe

Das erste Jahr ihrer Ehe

Titel: Das erste Jahr ihrer Ehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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nach, mit einer Behändigkeit und einem Tempo, die Margaret erstaunten. Der Führer blieb in der Nähe der beiden Männer. Saartje warf sich bäuchlings auf den Boden, und Margaret kniete neben ihr nieder.
    Patrick setzte sich vielleicht sechs Meter entfernt, die Knie hochgezogen, den Kopf in den Händen. Margaret wusste, dass es besser war, jetzt nicht zu ihm zu gehen. Saartje, die kurz den Kopf hob, um schluchzend nach Luft zu schnappen, sah Margaret neben sich. »Hauen Sie ab«, stieß sie hervor.
    Margaret stand auf. Willem brüllte: »Arthur!« Margaret hörte gedämpfte Schreie, während Willem versuchte, den vor Schmerz wahnsinnigen Arthur niederzuringen. Als der Kampf vorbei war, setzten sich die zwei Männer hin. Beide starrten zu der Stelle hinüber, an der Diana verschwunden war. Der Führer blieb achtungsvoll fünf Meter entfernt stehen. Auf alles vorbereitet, was vielleicht als Nächstes geschehen würde.
    »Könnte sie noch am Leben sein?«, fragte Margaret Patrick.
    Er antwortete nicht. Er sah sie nicht an. Er kam nicht zu ihr.
    Saartje stand auf und klopfte sich Jacke und Hose ab.
    »Wissen Sie, worüber sich Diana und Arthur heute Morgen gestritten haben?«, fragte sie Margaret.
    Margaret wurde heiß unter ihrer Jacke. Sie schüttelte den Kopf. (Dabei wusste sie es doch sehr wohl, oder nicht?)
    »Gott, warum mussten Sie nur mitkommen?«, fragte Saartje und ging weg.
    Margaret hatte die Hände in den Taschen und sah zu ihren Füßen hinunter. Sie konnte nicht den Berg hinunterschauen. Sie wollte Patrick nicht ansehen, der ihren Blick nicht erwidern würde. Sie wollte den Gletscher nicht sehen, den sie, eine fast unerträgliche Vorstellung, gleich noch einmal würden überqueren müssen. Wie sollte Arthur das schaffen? Wie sollten sie alle es schaffen? Gab es vielleicht einen Weg um den Gletscher herum? Der Führer wusste das sicher. Vielleicht wenn sie weiter anstiegen und auf der anderen Seite wieder hinunter? Auf welcher anderen Seite ?, fragte sich Margaret, während sie zu den Bergspitzen über ihnen hinaufschaute. Hatte Arthur überhaupt die Kraft, weiterzusteigen?
    Es war, als wäre Diana von der Erde verschluckt worden, um vielleicht in hundert Jahren oder auch niemals wiederzuerscheinen. Sie war verschwunden, wohin keiner von ihnen ihr folgen konnte. Margaret betete darum, dass Diana schnell tot gewesen, vielleicht mit dem Kopf so hart aufs Eis geschlagen war, dass sie das Bewusstsein verloren hatte, der kreiselnde Sturz in die Tiefe, den sie beobachtet hatte, schien ihr darauf hinzuweisen. Was Margaret nicht aushalten konnte, war der Gedanke, dass Diana ihrem Schicksal sehenden Auges begegnet war und gewusst hatte, was mit ihr geschah, wenn auch nur einen Augenblick lang. Aber hätte sie nicht bis zur letzten Sekunde an Hoffnung, an Rettung geglaubt? Oder hätte beim Anblick des Abgrunds, der ihr entgegenraste, eine schreckliche Panik sie erfasst, so wie – jedenfalls in Margarets Vorstellung – Menschen, die beim Sprung von hohen Gebäuden oder Brücken die Erde auf sich zurasen sahen? Nein, sagte sich Margaret mit Entschiedenheit. Diana hatte schon früh das Bewusstsein verloren. Sie versuchte, sich Arthurs Verzweiflung vorzustellen, als Diana an ihm vorübergerutscht war, ohne dass er sie aufhalten konnte. Sie retten zu wollen und dabei zu wissen, dass er sich nicht von der Stelle rühren durfte, das mussten Folterqualen für ihn gewesen sein.
    Der Koch reichte heiße Brühe herum. Jeder nahm einen Becher an, aber keiner konnte trinken. Nach einer Weile stand Patrick auf und ging zu Margaret. Keiner von ihnen sagte etwas. Die Worte, die sie im Kopf hatten, konnten nicht laut gesagt werden. Nicht hier. Nicht im Beisein anderer.
    Arthur und Willem kamen langsam wieder nach oben. Margaret hoffte, Willem habe Arthur darauf vorbereitet, dass sie den Gletscher noch einmal überqueren mussten.
    Als die beiden näherkamen, starrte Margaret ungläubig in Arthurs Gesicht. Das war nicht Arthur. Der Mann trug Arthurs Barbour-Jacke, ja, aber sie kannte ihn nicht. Er schnappte nach Luft, und seine Augen waren beinahe zugeschwollen. Die Verzweiflung bildet Gesichter neu, wie Margaret soeben mit eigenen Augen sah.
    Saartje ging zu Arthur und hielt ihn fest. Er legte seinen Kopf auf ihre Schulter und kniff die Augen zu, aber er weinte nicht. Der Schmerz ging schon über die Tränen hinaus und begann, sich an einem Ort festzusetzen, aus dem er nicht abfließen, sondern sich nur immer tiefer in den Körper

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