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Das erste Schwert

Titel: Das erste Schwert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kashina
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aus dem Sessel zu erheben, vermochte der Majat-Meister einen jeden zu erspähen, der sich aus jener Richtung
     der Burg näherte. Oder sich von ihr entfernte.
    Äußerlich völlig gelassen sah er jener in einen Kapuzenmantel gehüllten Gestalt nach, die, unbeholfen vornübergekrümmt auf
     ihrer Reitechse kauernd, soeben das Burgtor durchritt und sich seiner in geraumer Entfernung hügelabwärts lagernden Eskorte
     näherte.
Zwanzig Heilige Ritter,
dachte Oden Lan und wog einen Beutel voller Gold in seiner Rechten, bevor er ihn auf dem Schreibpult abstellte.
    Fünfhundert Goldkronen. Unter den Priestern musste heller Aufruhr herrschen. Natürlich waren die Dienste der Majat stets von
     unschätzbarem Wert für ihren sogenannten Allheiligen Vater, dessen höchstes Ziel es zu sein schien, alles menschliche Leben
     in seinem Einflussbereich zu vernichten – sei es durch die mit größter Strenge überwachten Sittlichkeits- und Fortpflanzungsgesetze
     oder schlicht durch ganz gewöhnlichen, redlichen Mord. Oden Lan atmete grimmig durch und rief sich zur Ordnung. Zu urteilen
     stand ihm nicht zu. Die politische Stellung der Majat erwuchs ironischerweise gerade aus ihrem Prinzip strikter politischer
     Nichteinmischung. Ihre Aufgabe war es, zu kämpfen, nicht zu urteilen.
    Doch allen Prinzipien zum Trotz – dieser eine, ganz spezielle Auftrag war außer Kontrolle geraten. Zwei Assassinen im diamantenen
     Rang arbeiteten gegeneinander.
    Im Verlauf seines Lebens in der Majat-Feste und insbesondere während der letzten zwanzig Jahre seiner Regentschaft hatte Oden
     Lan vieles gesehen. Er hatte beobachtet, wie die Kirche, befeuert von ihrer allgegenwärtigen Rivalität gegenüber dem Orden
     der Bewahrer, zu einer Macht heranwuchs. Er hatte drei Könige kommen und gehen sehen; wie ein |298| Spielball war die Macht zwischen den drei Königshäusern hierhin und dorthin gewechselt. Er hatte den Allheiligen Vater Haghos
     im Auge behalten, wie er, aus dem Nichts auftauchend, zu einer alles verzehrenden Kraft wurde, gleich einem giftigen Pilz,
     der jedwedes Leben in seiner Nachbarschaft verdarb und austilgte. Und er hatte sich selbst hinter seinem Pult alt werden sehen,
     verstrickt in Reden und Schreibarbeit anstatt in dem, was er für echtes Handeln erachtete. Aber etwas Derartiges hatte er
     noch nicht erlebt. Obgleich er nie gezögert hatte, wenn es galt, notwendige Entscheidungen zu treffen, so musste er nun doch
     eingestehen, dass er wahrlich nicht einmal ansatzweise zu sagen vermochte, wie diese Situation zu handhaben war.
    Er war ein alter Mann. Als er dereinst zum Meister ernannt worden war, hatte sich die Kirche noch schwer damit getan, einen
     Mann seiner Abstammung auf einem solch hohen Posten zu akzeptieren. Doch hatten die Majat seit jeher ihren eigenen Regeln
     unterworfen gelebt. Er war Bester der Besten. Selbst heute noch, weit jenseits der Blüte seines Lebens, stellte er eine Macht
     dar, mit welcher gerechnet werden musste.
    Seinen Namen, Oden Lan, bekam er selten zu hören. Wurde er von Majat angesprochen, so benutzten jene seinen Rang –
Aghat.
Alle anderen nannten ihn Gildemeister.
    Er spürte, dass sich jemand näherte, und regte sich. Mit dem feinen Instinkt des Assassinen nahm er den Mann wahr, der draußen
     geräuschlos den Korridor entlangging und schließlich vor der offenstehenden Tür des Turmzimmers anhielt.
    Oden Lan wandte sich vom Fenster ab. »Kommt herein, Abib«, sagte er.
    Der alte Waffenmeister trat über die Schwelle und schritt flugs zu seinem Lieblingsplatz hin, einem abgenutzten Armsessel
     in der Ecke des Gemachs.
    |299| Wie alle Assassinen zog Abib es vor, eine Wand im Rücken zu wissen, um den Raum im Auge behalten zu können, auf dass ihm nicht
     das Geringste entging. Nicht, dass sie in diesen Mauern etwas zu fürchten gehabt hätten. Die Majat-Feste stand seit Jahrhunderten
     unbesiegt; noch niemals in der Geschichte des Königreiches Tallan Dar hatte es jemand gewagt, diesen Ort anzugreifen, der
     als Hort der besten Kämpfer galt, die je auf Erden gewandelt waren.
    »
Shelah
, Aghat«, sagte Abib grüßend und neigte vor dem Gildenmeister leicht den Kopf.
    Oden Lan erwiderte die Ehrenbezeugung mit gedankenabwesendem Nicken. Sein Blick streifte zum Fenster zurück und hinaus und
     hinab, der einsamen Gestalt des davonreitenden Priesters hinterher.
    »Es war derselbe, der Euch schon einmal aufsuchte«, bemerkte Abib.
    »Ja.«
    Fern des Studierzimmers im Eckturm trottete die

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