Das erste Schwert
errötete.
»Deine Gabe ist sehr, sehr stark«, sagte sie. »Danach zu urteilen, hättest du es sein müssen. An deiner Reaktion aber ersehe
ich, dass ihre Wahl auf deinen Bruder fiel. Interessant. Ich wünschte, ich wüsste, welchem von euch beiden das Martyrium bevorsteht.«
Skip seufzte. Er hätte viel darum gegeben, könnte er verstehen, was sie meinte.
Er machte eine abwehrende Handbewegung und lauschte dem Schaben des Stoffs auf seiner Haut nach; dann suchte er abermals Dagmaras
Bernsteinblick.
»Glaubst du, ich hätte als neugeborenes Kind getötet werden sollen?«, fragte er.
Sie runzelte die Stirn. »Wenn du mir zugehört hättest, Skip, dann hättest du gehört, dass wir Cha’ori glauben, dass überhaupt
kein neugeborenes Kind getötet werden darf. Würden wir nach euren Gesetzen leben, hätte ich heute keine Tochter. Nicht einmal
mich selbst würde es geben.«
»Was ist mit Erle?«, fragte Skip. »Glaubst du, er ist – normal?«
|354| »Du meinst – ohne Gabe?« Plötzlich glommen ihre Augen auf und nahmen einen merkwürdigen Ausdruck an. »Ich kann es nicht sagen.
Mir ist nicht Ayallas Gespür für Magie gegeben. Nicht einmal, was dich betrifft, war ich mir sicher. Nicht bis zu unserem
Gespräch. Nur eines kann ich mit Sicherheit sagen: Dem Augenschein nach habt ihr beide nicht viel von Brüdern an euch. Und
ich habe das Gefühl, dass keiner von euch wirklich in die Waldlande gehört.«
»Aber wir sind beide hier geboren!«, brauste Skip auf.
»Ja, natürlich.« Sie warf ihm einen undeutbaren Blick zu und beließ es dabei.
Er schob die Teetasse ärgerlich-enttäuscht von sich.
»Es sind schwere Zeiten, Skip«, sagte sie. »Wenn deiner Kirche nicht bald Einhalt geboten wird, gibt es Krieg. Und dieses
Mal wird nichts sein wie bei den Heiligen Kriegen der Vergangenheit, als ein Heer der Ritter des Heiligen Sterns, oder wie
immer sie sich nennen mögen, in die Nachbarländer einfiel und mühelos eine Schlacht um die andere gewann. Dieses Mal werden
die Cha’ori und ihre Wüstenbrüder, die Cha’idi, vorbereitet und in der Lage sein, Widerstand zu leisten. Und auch Shayil Yara
und Bengaw haben ihre Lektion gelernt.«
Skip starrte ins Leere und hatte wie mit Blut gemalte
lebendige
Bilder wendiger Cha’ori-Krieger vor Augen, die sich in Stahl gehüllten Rittern entgegenwarfen; Pferdeleiber, die gegen schnelle
shandorianische Reitechsen brandeten und hoffnungslos unterlegen waren. Bruder Nikolaos hatte oft behauptet, ein einziger
Ritter nehme es mit zehn Cha’ori-Kriegern auf. Es war eine Übertreibung gewesen, natürlich, jedoch eine mit wahrem Kern. Zu
ungleich waren die Machtverhältnisse verteilt. Zu offensichtlich konnte es nur einen Sieger geben.
»Was für eine Art Widerstand könntet ihr schon leisten?«, murmelte er, »und warum sollte es einen Krieg geben?«
Dagmaras Augen wurden zu schmalen Schlitzen. »Ich |355| werde dir deine zweite Frage zuerst beantworten«, sagte sie. »Was eurem Allheiligen Vater Haghos vorschwebt, ist nicht etwa
eine perfekte Gesellschaft, gleich, was er euch naivem Volk auch weismachen mag. Ihn treibt die Gier nach Macht und Einfluss,
und er wird nicht eher Ruhe geben, bis alles, was ihm nach einer Bedrohung aussieht, ausgelöscht ist.«
»Aber worin sollte er denn eine Bedrohung sehen?«, fuhr Skip sie an. Je länger diese Unterhaltung andauerte, desto tiefer
fühlte er sich in ein Labyrinth gelockt.
»In der Magie Jener-mit-der-Gabe«, antwortete Dagmara; ihre Augen blitzten in der Düsternis des Zeltes. »Solange auf dieser
Welt Menschen leben, denen unerklärliche Talente innewohnen – Mächte, die keiner Kontrolle unterliegen –, stellen sie eine Provokation dar, die auf Dauer kein Herrscher zu ertragen imstande ist.
Deshalb
verleumdet Seine Heiligkeit unsere Gabe als verflucht.
Deshalb
will er den Tod unserer Kinder. Und
deshalb
sieht er in den Cha’ori wie den Cha’idi Feinde. Wie gesagt: Die Nomadenvölker unterwerfen ihre Kinder nicht seinen Fortpflanzungsgesetzen.
Frei und ungebunden ziehen sie über diese Welt. Das bringt uns zu deiner ersten Frage, Skip: Was für eine Art Widerstand wir
denn leisten könnten. Darauf werde ich nicht antworten. Denn: Wer weiß, wohin deine Reise dich führen mag und welcher Menschenschlag
dich zukünftig noch befragt. Es ist zu unser aller Bestem, wenn du nichts weißt, außer dem bereits Gehörten.«
Sie leerten ihre Tassen und beobachteten das Züngeln der
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