Das erste Schwert
Haindörfern ein Kind aufwuchs, dem die Probe erspart geblieben ist. Und trotzdem, tapferer
Junge aus den Waldlanden, hast du nie einen Gedanken daran verschwendet, warum die Priester Neugeborene testen und töten?«
»Ich glaube, ich –« Skip verstummte. Sie hatte recht. Er hatte nie darüber nachgedacht. Er war in dem festen Glauben aufgewachsen, dass die
Priester allesamt betend und dem Wohlergehen ihrer Schäflein hingegeben ihr Dasein fristeten. Nicht einmal, als er mitbekommen
hatte, dass es Galina |349| verboten worden war, Weißdorn zu heiraten, den Mann, den sie liebte, war er misstrauisch geworden! Warum hatte er es nicht
hinterfragt? Und – wie hatte er die Angst in seines Vaters und Baba Yagnas Augen übersehen können, als sie Erle, Ellah und
ihn geradezu verzweifelt fortgeschickt und sie so der Probe entzogen hatten?
Abermals räusperte er sich. »Und? Warum tun sie’s?« fragte er.
Die Frage selbst war bereits eine Gotteslästerung. Jedes Kind wusste, was es bedeutete, die heiligen Handlungen zu hinterfragen
– nämlich, sich vom rechten Weg abzuwenden und Ghaz Kadan, dem Verfluchten Zerstörer, zu huldigen. Jedes Kind wusste, dass
die Antworten auf alles allein im Buch der Gebote zu finden waren – jenem einen Buch, das zu lesen nur den Heiligen Brüdern
gestattet war.
»Von Zeit zu Zeit«, sagte Dagmara bedächtig in sein Schweigen hinein, »wird ein Kind geboren, dem ganz bestimmte Talente innewohnen.
Befähigungen, die von den Priestern als gefährlich eingestuft sind. Solche Kinder sind zu Taten imstande, die normalen Menschen
unmöglich sind. Eure Priester verleumden dieses angeborene Talent als
Ghaz Alim
– die Verfluchte Gabe. Und in den Schauergeschichten, die sich die Menschen am Kamin erzählen, ist davon als
Magie
die Rede.«
»Magie?«, wiederholte Skip. Er wollte kaum seinen Ohren trauen. Magie war etwas, das es nicht gab, etwas, das nur in Baba
Yagnas haarsträubenden Nachtgeschichten vorkam. Und doch – hatte er auf dieser seiner Reise nicht immer wieder erfahren müssen,
dass nur allzu vieles aus jenen Geschichten einen wahren Kern hatte? Waren sie nicht den Wandelnden Bäumen begegnet, und den
Felslingen und selbst der Waldfrau persönlich?
»Du hast mich schon richtig verstanden, junger Walder«, bestätigte Dagmara. Ihre Bernsteinaugen blitzten gelb im |350| Licht der Laterne, fast wie Wolfsaugen. »Magie. Magie als Umschreibung für die Fähigkeit, etwas tun zu können, das nach menschlichem
Ermessen bislang unmöglich war.«
»Aber wie können die Priester überhaupt herausfinden, dass ein Neugeborenes dieses Talent hat?«, fragte Skip. »Wonach suchen
sie?«
»Sie sind im Besitz einer Substanz, die auf das reagiert, was sie das
Verfluchte Blut
nennen«, gab Dagmara ihm düster zur Antwort. »Das
Elixier Ghaz Shalan
– die Segnung der Verfluchten. Ein einziger Blutstropfen, gemischt mit einem Tropfen des Elixiers, offenbart, ob jemand die
Gabe hat oder nicht.«
Er schluckte mühsam und suchte seine Gedanken geordnet zu halten. »Wenn eure Kinder nicht der Probe unterworfen werden – wie
kannst du dann so sicher wissen, dass sie die Gabe haben?« Er sagte es herausfordernd; noch immer war es unfassbar für ihn,
dass sich in genau diesem Lager Menschen frei bewegten, die niemals getestet worden waren. »Vielleicht sind Cha’ori-Kinder
einfach anders?«
»Du meinst, nicht von Ghaz Alim heimgesucht?« Sie lächelte. »Nein. In den Zeltkreisen der Cha’ori kommen genauso viele Kinder
mit der Gabe zur Welt, wie in jedem anderen Volk. Es stimmt, wir haben nicht jenes Elixier, um sie auf die Gabe hin zu prüfen,
aber es gibt andere Möglichkeiten. Wir wissen sehr früh darum, ob einem Neugeborenen Magie innewohnt.«
»Welche anderen Möglichkeiten?« Er spürte, dass sich seine Rückenmuskeln verkrampften.
»Eine Mutter weiß es immer«, sagte Dagmara. »Wenn ihr Kind viel zu lange schreit oder wenn es nicht einschlafen kann.«
»Was hat die Gabe denn mit Schreien oder Schlafenkönnen zu tun?«, murmelte Skip fast widerstrebend. Sein Mund wurde plötzlich
ganz trocken. Er begann die Antwort zu erahnen. Er war sich nicht sicher, ob er sie hören wollte.
|351| »Sie haben Alpträume«, sagte Dagmara. »Das ist etwas, das allen Kindern mit der Gabe zu eigen ist. Sicher, auch andere Kinder
haben Träume, manchmal sogar unheimliche. Aber Alpträume von jener Art, dass man nicht mehr weiß, ob man schläft oder wach
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