Das Erwachen
soeben erzählt hatte, so ernsthaft nachzugrübeln, als hätte sie sich gerade mit einem interessanten Artikel im Time Magazine beschäftigt.
Offenkundig nahmen manche Leute so etwas sehr ernst.
»Dann bis nächste Woche!«, erklärte die Piercing-Prinzessin.
Sara wandte sich sogleich an ihn und musterte ihn feierlich, was ein gewisses Unbehagen bei ihm auslöste. »Bist du der Nächste?«, fragte sie. Sie war ziemlich klein, bestimmt nicht größer als Einsfünfundfünfzig, mit dunklen, ausdrucksstarken Augen und langen, braunen Haaren. Trotz ihrer geringen Größe hatte sie eine gute Figur. Sie wirkte wie ein kompakter Dynamo. Zwar bewegte sie sich verhalten, doch sie strahlte etwas aus, das gebündelte Energie erahnen ließ.
»Sara, das ist Finn Douglas, der Mann meiner Cousine Megan«, stellte Morwenna ihn vor. »Und das ist Megan. Ihr beiden kennt euch wohl auch nicht.«
Sara lächelte Megan an. »Hallo. Morwenna hat mir schon viel von dir erzählt. Schön, dich kennenzulernen.«
»Freut mich«, murmelte Megan.
»Und Finn. Hm, interessant, ich muss schon sagen, ich bin sehr gespannt auf deine Hand.«
Finn blickte auf Megan und bemühte sich, kein Bedauern zu zeigen. »Na, was soll’s – ich bin bereit.«
Megan sagte nichts, doch er merkte, dass ihre Augen dankbar leuchteten.
»Wir gehen dort rüber«, erklärte Morwenna und ging voraus.
Megan zwinkerte Finn zu und folgte ihrer Cousine durch einen Perlenvorhang in den hinteren Teil des Ladens. Als die Perlen sich teilten, erhaschte Finn einen Blick auf Arbeitstische, Stühle und Türen zu beiden Seiten, die zu kleinen viereckigen Kabinen führten.
»Wir nehmen die rechte Tür«, erklärte Sara.
Finn beschlich wieder das seltsame Gefühl, manipuliert und überrumpelt zu werden. Aber jetzt konnte er keinen Rückzieher mehr machen, ohne ausgesprochen unhöflich zu wirken. Außerdem ärgerte er sich über sich selbst. Es war doch alles völliger Humbug, er hatte nicht vor, irgendetwas davon an sich heranzulassen. Sie waren eine Woche in Salem, und diese eine Woche konnte er zu Megans Verwandten wahrlich nett sein. Was kostete es ihn schon, sich von Leuten über die Tugenden von Räucherstäbchen und Edelsteinen aufklären zu lassen? Nichts. Und ebenso wenig kostete es ihn, einer Frau seine Hand zu zeigen und sich von ihr erzählen zu lassen, was sie darin über seine Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart sah.
»Sie ist die Beste«, erklärte Joseph munter und ging hinter die Theke, um Jamie zu helfen. Die Schlange der Kunden, die ungeduldig darauf warteten, ihre Einkäufe zu bezahlen, wuchs unerbittlich.
Finn folgte Sara. Die Tür der linken Kabine war bereits geschlossen. Sara ging vor ihm durch die rechte Tür. Der winzige Raum war genauso, wie er ihn sich vorgestellt hatte: dunkel, ein Tisch, ein Stuhl davor, ein Stuhl dahinter, eine Kristallkugel auf dem Tisch, rechts davon Tarotkarten und eine Lampe. Sara machte die Lampe an. Ein schwacher bläulicher Schein erleuchtete den Raum.
»Ich brauche deine Hand«, meinte sie.
»Ach so, na klar.« Er streckte die Hand aus.
»Interessante Lebenslinie«, sagte sie sofort. Er spürte, wie sie federleicht mit dem Zeigefinger über etwas tastete, was wohl seine Lebenslinie war. Wahrscheinlich sollte er nun fragen, ob er ein schönes langes Leben haben würde, aber er weigerte sich stur, ihr ein Stichwort zu liefern.
»Sehr seltsam.«
»Ach ja? Heißt das lang oder kurz?«
»Unterbrochen«, sagte sie nachdenklich.
»Das heißt, ich sterbe und kehre zurück?«, fragte er ironisch.
»Nicht unbedingt. Es heißt nur, dass … dass der normale Verlauf dessen, was wir als Leben bezeichnen, möglicherweise unterbrochen wird.«
»Tut mir leid, aber das verstehe ich nicht. Jetzt lebe ich, eines Tages bin ich tot. Irgendwas dazwischen gibt es nicht.«
Einen Moment lang blickte sie ihn an. In dem merkwürdigen blauen Licht schimmerten ihre Augen unheimlich.
»Wirklich nicht?«, fragte sie.
Sie schüttelte den Kopf, beugte sich wieder über seine Hand, erforschte sie weiter. »Hier ist ein merkwürdiger Riss … und dann werden die Linien weniger. Sieht aus wie Kinder … aber die Linien sind ganz schwach, vielleicht sind es nur Träume. Da … da liegt etwas Gewalttätiges vor dir. Gefahr.«
»Ich schwebe in Gefahr?«
»Vielleicht … aber womöglich geht die Gefahr auch von dir aus.«
Vielleicht waren es ihre Worte, vielleicht das blaue Licht, vielleicht die Düsternis des winzigen Raums – auf einmal
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