Das Erwachen
vielleicht doch. Mike ist ein paar Jahre älter als ich. Er hat auf der Abschlussfeier die Rede gehalten. Damals trug er eine riesige Hornbrille, und seine Nase steckte ständig in einem Buch. Ich hätte mir denken können, dass er in einem Museum landen würde. Oder als Lehrer oder Mitarbeiter in irgendeinem Labor.«
Der Bursche war weg. Eigentlich war Megan eher kurz angebunden gewesen. Finn vergaß seine absurde Eifersucht.
Als sie auf die Straße traten, war der klare blaue Himmel, an dem sie sich morgens noch erfreut hatten, verschwunden.
Ein graues Tuch hatte sich scheinbar auf den Ort gelegt.
»Willst du jetzt essen oder später?«, fragte Megan.
»Schauen wir doch vorher noch bei Morwenna und Joseph vorbei«, erwiderte Finn und hoffte, dass sein Grinsen nicht allzu aufgesetzt wirkte.
Auf dem kurzen Weg vom Museum zum Laden versuchte er sich noch einmal vor Augen zu führen, dass die Straßen voller Touristen waren: Mütter, Väter, Kinder, fröhliche Menschen. Manche waren schon verkleidet, obwohl Halloween erst in ein paar Tagen war. Hier tummelten sich Außerirdische, Piraten und Prinzessinnen und auch ein paar unheimlichere Gestalten aus irgendwelchen Filmen, Science-Fiction- oder Horrorschinken. Trotzdem war alles völlig normal, sagte sich Finn immer wieder.
Bald standen sie vor dem jahrhundertealten Gebäude mit einem Schild, das auf ›Nahrung für den Geist‹ hinwies. Megan strebte schnurstracks hinein.
Erstaunt verspürte Finn plötzlich so etwas wie eine düstere Vorahnung. Als läge eine Schwere in der Luft, die ihn kaum einen Fuß vor den anderen setzen ließ.
»Finn?« Megan blieb stehen und sah sich fragend nach ihm um.
Er starrte seine Frau an. Noch nie war sie ihm so schön vorgekommen, fast engelgleich. Sie strahlte von innen, etwas Reines ging von ihr aus, ihr goldenes Haar umspielte sanft ihre Schultern, die Augen waren wie blaue Seen. An diesem Tag trug auch sie Schwarz: eine lange, schwarze Weste über einer schwarzen Jeans und eine schwarze längärmelige Bluse mit rundem Ausschnitt, alles eng anliegend.
Er wollte sie von diesem Laden fernhalten, von allem Bösen, das sich darin befinden mochte.
Hör auf mit diesem Quatsch!, befahl er sich streng.
»Tolles Schaufenster«, sagte er, ohne genauer hingesehen zu haben.
»Findest du? Morwenna hatte eine Zeit lang Kunst als Hauptfach«, erklärte Megan.
Sie spürte es nicht. Sie spürte nichts von dem Verderben, das über diesem Laden hing.
Weil es nicht da war. Er hätte seine Frau einmal beinahe verloren, und nach ihrem gestrigen Albtraum hatte er sich benommen wie ein Idiot. Aber er hatte Angst. Viele Jahre lang hatte er geglaubt, er sei stark und würde nie irgendwelchen albernen Ängsten und Aberglauben erliegen.
Und jetzt …
Jetzt hatte er wirklich Angst.
»Hey, vielleicht haben sie dort drinnen ja ein paar skurrile Buchstützen in der Form irgendwelcher schräger Monster«, sagte er gezwungen munter und ging entschlossen die Stufen hinauf.
Teile eines Gebets schwirrten ihm durch den Kopf. – Und ob ich schon wanderte im finstren Tal …
Idiot!, schimpfte er sich wütend. Er ging in einen Laden! Was war eigentlich mit ihm los? Gerade hatte er einen Vortrag gehört, der aufzeigte, wie Gefühle, Misstrauen und Phantomvorstellungen ein gutes Dutzend unschuldiger Menschen an den Galgen gebracht hatten. Reiß dich zusammen, Mann! Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert, hier ist kein Platz mehr für solchen Humbug.
Hand in Hand mit seiner Frau trat er näher, ein starres Lächeln auf dem Gesicht.
Schon von außen sah man, dass der Laden überfüllt war. Ein Mann, natürlich ganz in Schwarz, saß auf den Stufen, die in den oberen Teil des alten Hauses führten, und beobachtete das Kommen und Gehen der Leute. Der Mann erhob sich und wollte sie schon aufhalten, doch dann erkannte er Megan.
»Hey, Megan!« Der Bursche umarmte sie und löste ihre Hand aus Finns.
»Jamie!« Megan wandte sich ihm zu. »Jamie – mein Mann Finn. Finn – Jamie Gray. Er arbeitet schon seit Ewigkeiten für Morwenna und Joseph.«
»Hallo«, sagte Jamie. »Schön, dich kennenzulernen. Geht ruhig rein. Heute ist irrsinnig viel los. So kurz vor Halloween gibt es immer eine Menge Neugierige.«
Finn sagte sich, dass an dem Burschen überhaupt nichts Böses oder Unheimliches war. Viele Leute trugen Schwarz, auch er selbst trug oft schwarze Sachen. Sie hatten eine Reihe keltische Lieder in ihrem Repertoire, da machten sich schwarze Jeans und
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