Das Erwachen
aber Carmen begleitete ihn. Sie wollte nicht allein in diesem Horrorhaus bleiben.
Eine Viertelstunde später hatte man Henry auf einer Trage festgeschnallt und in dem Wagen verstaut. Die Besatzung des Krankenwagens war vieles gewohnt, aber heute hatten sie ihren Knüller erlebt. Das würde ausreichend Gesprächsstoff für eine lange Zeit geben.
Der Krankenwagen war abgefahren. Carmen und Ludevik verschlossen das Haus und gingen zum Eingangstor.
»Und was ist mit den Hunden?«, fragte Carmen.
»Bis morgen werden sie es aushalten. Sie sehen eigentlich noch ganz gut genährt aus, nicht?«
»Und was ist morgen?«
»Wenn Sie möchten, dann schauen wir uns das Innenleben des Besitzes der von Rönstedts einmal in Ruhe an. Aus beruflicher Sicht finde ich es faszinierend. Aus menschlicher Sicht habe ich heute das größte Trauerspiel meines Lebens mitbekommen. Wie kann sich jemand nur in so kurzer Zeit so schnell verändern?«
»War es wirklich in so kurzer Zeit?«, gab Carmen zu bedenken. »Oder haben wir es nur so spät bemerkt, Sarah dagegen schon viel früher?«
Carmen wälzte sich die ganze Nacht unruhig im Bett hin und her und fand keinen Schlaf. Immer wieder hatte sie das verkommene Haus, den vor Dreck stinkenden Henry und die totale Unordnung vor Augen. Und immer wieder fragte sie sich, wie es dazu hatte kommen können.
Und sie fragte sich auch, warum sie eigentlich so viel Interesse an diesem Henry von Rönstedt zeigte, der sie doch eigentlich nichts anging. Erstaunlich war dessen Wandel in so kurzer Zeit schon, von der Arroganz, der übertriebenen Selbstdarstellung bis hin zu diesem verkommenen Wrack als Mann.
Und dann wusste Carmen, warum sie sich emotional so engagierte. Sie gönnte es diesem Henry. Sie gönnte es ihm wegen Sarah. Das Schwein hat sich selbst bestraft, sagte sie sich und wirkte irgendwie zufrieden. Und dann wiederum war sie etwas traurig, weil Sarah dies nicht mehr hatte erleben können. Was wäre das für sie ein Triumph gewesen!
Ohne dass sie es wollte, kam sie auf ihren Mann Kristian, dem sie auch eine Wandlung in der Art wünschte, wie Henry sie durchgemacht hatte. Auch Kristian, so überlegte sie, hat es als Schwein verdient, bestraft zu werden. Und weil es dafür keinen Anhaltspunkt gab, dass er eine ähnliche psychische Veränderung durchmachen würde wie Henry, hoffte sie insgeheim, dass auch bei ihm in irgendeinem Winkel des Kopfes ein kranker Bazillus schlummerte, der sich ähnlich wie bei Henry auswirken könnte.
Carmen war trotz des Schlafdefizits am anderen Morgen putzmunter, als sie sich mit Ludevik traf. Aber Ludevik war nicht allein. Oberkommissar Breuer stand neben ihm.
»Frau Sigallas, ich habe Herrn Breuer in groben Zügen über das informiert, was wir gestern hier vorgefunden haben und ihn gebeten, mit uns das Haus zu betreten. Ist das in Ihrem Sinne?«
Carmen wusste nicht so recht. »Was hat denn die Polizei mit einer solchen Krankengeschichte zu tun?«
»Es geht auch darum, einen Zeugen zu haben, Frau Sigallas, denn wir betreten fremdes Eigentum, und zwar ohne Erlaubnis.«
»Sozusagen ein kleiner Notstand«, witzelte Breuer und bemühte sich vergeblich um einen spöttischen Blick.
Die Hunde kamen ihnen schwanzwedelnd entgegen, Ludevik sperrte sie in die Garage und verschloss die Klappen.
Der Beamte schüttelte immer wieder den Kopf, als er das Innere des Hauses inspizierte. »Ist denn das die Möglichkeit. Wie sich ein Mensch und sein Umfeld nur in so kurzer Zeit verändern können«, murmelte er erstaunt. »Kennen Sie das Haus von früher?«, wollte er von den beiden wissen.
Sie kannten es.
»Als ich mit meinem Kollegen Herrn von Rönstedt die traurige Nachricht überbracht habe, ich meine den schrecklichen Tod seiner Frau, da sah es hier aus, man hätte vom Boden essen können. Ein Haus wie aus dem Bilderbuch. Und die Inneneinrichtung … so adrett, ja richtig adrett. Und gediegen. Wie auf den Fotos eines Hochglanzmagazins.«
»Hier muss sauber gemacht werden«, sagte Ludevik. »Das ist ja ein Krankheitsherd ohnegleichen. Von Grund auf sauber gemacht werden. Was meinen Sie, Frau Sigallas?«
Carmen sah es auch so.
»Ich werde den Bürgerservice beauftragen«, konstatierte Ludevik.
Vom Bad gingen sie zurück ins Schlafzimmer und von dort über einen Flur ins Wohnzimmer.
»Henry hat unentwegt von seinem Weinkeller gesprochen. Kennen Sie ihn?«
Die Frage war an Carmen gerichtet, sie kannte den ehemaligen Weinkeller. Aber Breuer kannte ihn nicht. Und er
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