Das Erwachen
wusste auch nicht, in welchem Zusammenhang er von Bedeutung sein könnte.
Ludevik ging voran in die Küche, schob mit dem Fuß zerbrochenes Geschirr und Abfall zur Seite und öffnete die Tür zum Abstellraum. Der Gestank nahm zu, verschimmelte Essenreste quollen aus einem großen Plastikeimer.
Ludevik öffnete eine weitere Tür, stand in einem kleinen Flur und wandte sich nach links. Vor der dritten Tür blieb er stehen.
»Ruhig«, befahl er. »Haben Sie es auch gehört?«
Aber von den beiden anderen hatte niemand etwas gehört.
Ludevik wollte die Tür öffnen, sie war verschlossen. Er drehte den Schlüssel, die Tür schwang von allein auf, das Licht im ehemaligen Weinkeller war eingeschaltet.
Sie erstarrten und trauten ihren Augen nicht. Aus Carmens Mund kam ein erstickter Schrei, Ludevik stammelte: »Das gibt es doch nicht.«
Breuer schien sich als erster zu fangen. »Das hier ist nun aber wohl doch ein Fall für uns, die Polizei«, stammelte er und ging auf die am Boden hockende Gestalt zu.
Im ersten Augenblick dachten alle, so, wie sie an der Wand lehnte, sie sei tot. Dann regte sie sich jedoch. Ihre Hände waren gefesselt, die Handgelenke wund und aufgescheuert.
Die Frau hatte kurze gelb-dreckig-fleckige Haare, war mit einem Unterhemd in undefinierbarer Farbe bekleidet, trug auch einen Slip und sonst nichts. Sie starrte vor Schmutz und roch noch schlimmer als gestern Henry.
Und der Boden war mit allem möglichen übersät. Essenreste, zerrissenes und zerknülltes Papier, Reste von Kot und eine Urinlache. In der Ecke stand ein Eimer. Er war wohl dazu gedacht, in ihm die Notdurft zu verrichten.
»Wer sind Sie?«, fragte Breuer und bückte sich zu der Gestalt am Boden, ohne sie jedoch zu berühren. Sie reagierte nicht.
»Und wie mager sie ist«, sagte Carmen. »Die Flecken auf dem Gesicht, am ganzen Körper.«
Ludevik kam sich hilflos vor und telefonierte, so wie bereits am Tag zuvor, erneut nach einem Krankenwagen. Und er machte sich Vorwürfe, dass sie gestern nicht auch den übrigen Teil des Hauses durchsucht hatten. Aber nach was hätten sie suchen sollen? Außer Henry, so vermuteten sie, war sowieso niemand zugegen.
»Wer könnte sie nur sein?« Breuer erhielt keine Antwort und schaute nach, ob er vielleicht Ausweispapiere finden könne. Aber er hütete sich immer noch, sie anzufassen. Bis auf einen halben Meter näherte er sich ihr.
Carmen schob den Beamten zur Seite, bückte sich, umfasste die Oberarme der Frau und zog sie etwas hoch. Von der Seite betrachtete sie ihr Profil. Carmen ließ einen Arm los und drehte den Kopf der Frau in ihre Richtung. In diesem Augenblick machte diese die Augen auf. Und Carmen schaute in Augen, die sie kannte.
Als hätte sie sich verbrannt, ließ sie die Frau los, die wie eine Puppe zusammenklappte und zur Seite fiel.
»Das kann nicht sein«, stammelte Carmen, machte einen Schritt zurück und schlug die Hände vors Gesicht. »Das kann nicht sein. Sie ist tot.«
»Nein, sie lebt«, widersprach Breuer. »Sehen Sie nur, sie bewegt sich.«
»Sie ist tot«, stammelte Carmen, und dann wieder: »Sie ist tot. Sarah ist tot.«
Ludevik ging das alles zu schnell, und Breuer, der Beamte, dessen Augen abwechselnd von einem zum anderen huschten, bekam eh nicht alles mit. Er inspizierte deshalb das Umfeld und war auf der Suche nach Spuren, die ihm alles erklären würden.
Vorsichtig beugte sich Carmen wieder nach unten und betrachtete das Gesicht der Frau. Die Augen, die Nase, der Mund. Und jetzt öffnete sie sogar den Mund und wollte etwas sagen. Mehrfach setzte sie an, bis Carmen das Wort Wasser verstand.
Ludevik ging in die Küche und sah im Kühlschrank nach. Dort gab es kein Mineralwasser. Aber in der Abstellkammer waren noch einige Flaschen in einem Plastikkasten. Ludevik reinigte die Flasche, drehte den Verschluss ab und gab sie weiter an Carmen. Vorsichtig führte sie die Flasche an den Mund der Frau. Zuerst in kleinen Schlucken, trank sie immer gieriger. Wasser lief ihr aus den Mundwinkeln hinunter auf das T-Shirt.
Erschöpft rutschte die Frau nach hinten.
»Sarah, bist du es?«
Die Frage von Carmen war überflüssig, denn sie hatte Sarah längst erkannt. Es waren die Umstände, die Verquickungen, die sie an der Wirklichkeit zweifeln ließen.
»Sarah? Soll das Sarah von Rönstedt sein?« Breuer reagierte, wie man es von einem Polizeibeamten erwarten durfte. Skeptisch und ablehnend, weil nicht sein konnte, was nicht sein durfte. Von allen Seiten betrachtete
Weitere Kostenlose Bücher