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Das Erwachen

Das Erwachen

Titel: Das Erwachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edwin Klein
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und über verdreckt, Spuren von Kot auf dem Boden. Vermischt mit Erbrochenem und verkommenen, verschimmelten Essenresten.
    Carmen suchte in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch und presste es sich auf den Mund. Ihre Augen begannen zu tränen.
    Ludevik öffnete die Fenster. Der Durchzug vertrieb den Gestank etwas.
    »Vorsicht«, warnte Ludevik. »Zerbrochene Gläser auf dem Boden. Treten sie nicht hinein.«
    In der Küche das gleiche Desaster. Und dann betraten sie das Schlafzimmer. Auf dem Ehebett, die Farbe des Bettzeuges war nicht mehr auszumachen, lag eine verdreckte Gestalt. Sie schlief und stöhnte dabei. An der Größe erkannten sie, es musste sich um Henry handeln. Auf dem Nachttisch stand eine Flasche Weinbrand, daneben mehrere Schachteln Tabletten. Und auf dem Fußboden neben dem Bett lagen viele leere Flaschen.
    »Er hat das ganze Bett vollgekotzt«, meinte Ludevik.
    »Und vollgeschissen und vollgepinkelt«, fügte Carmen hinzu. »Totaler Zusammenbruch. Henry ist psychisch total zusammengebrochen.«
    Im Bad stand übel riechendes Wasser in der Wanne und im Waschbecken, die Toilette war lange nicht betätigt worden. Henry hatte deutliche Spuren hinterlassen.
    »Ich rufe einen Krankenwagen.«
    Aber Ludevik konnte nicht telefonieren, die Leitung war tot. Er benutzte sein Handy. Nachdem er den Krankenwagen bestellt hatte, schimpfte er auf sich selbst. »Da bin ich doch tatsächlich einige Male zum Haus gefahren, habe aber nie versucht, anzurufen. Ich hätte gemerkt, dass die Leitung tot ist. Und ich wäre schon früher auf die Idee gekommen, hier drinnen nachzusehen.«
    Henry rührte sich. Ein Seufzer, ein Stöhnen, langsam drehte er sich auf die Seite. Er öffnete die Augen und schaute Carmen und Ludevik an, schien sie jedoch nicht zu erkennen.
    Wie in Trance erhob er sich und blieb auf dem Bett sitzen. Die Hände legte er in den Schoß, zu einem Gebet gefaltet.
    »Hast du mich gerufen?«, fragte er mit glasigen Augen. Nur mühsam konnte er die Worte aussprechen. Sein Oberkörper schwankte und es sah aus, als würde er jeden Augenblick umkippen.
    Ludevik ging zum Nachttisch und betrachtete sich die Tabletten. »Valium. Habe ich mir gedacht. Und Doparen.«
    »Valium und Doparen?«, fragte Carmen. »Sarah hat die gleichen Medikamente genommen. Seltsam.«
    Ludevik bückte sich zu Henry, fasste ihn an der schmutzigen Schulter und sprach: »Henry, erkennst du mich?«
    Henry reagierte nicht.
    Ludevik schüttelte ihn. »Erkennst du mich?«
    Henry drehte sich in Ludeviks Richtung und schaute durch ihn hindurch. Seine Augen schienen nichts zu registrieren.
    »Henry, ich bin es, Klaus. Sag doch was.«
    Aber Henry gab keine Antwort. Stattdessen blickte er auf seine Hände und wiederholte langsam und schwerfällig: »Hast du mich gerufen?«
    »Ja«, sagte Ludevik. »Ich habe dich gerufen.«
    Einige Sekunden vergingen. »Aber deine Stimme klingt so fremd. Wer bist du?«
    »Ich bin dein Engel.«
    Henry schien zu überlegen. »Du willst mein Engel sein?« »Ja.«
    Henry hob die gefalteten Hände und besah sie sich lange. »Du willst mein Engel sein und hast nicht seine Stimme. Also bist du nicht mein Engel.«
    Die Logik war für Carmen und Ludevik einleuchtend.
    »Aber ich bin dein Engel«, begann Carmen. »Ich bin dein Engel. Erkennst du jetzt meine Stimme?«
    Henry stutzte. Er neigte den Kopf leicht zur Seite und schloss die Augen. »Ja, deine Stimme ist eine Engelstimme. Du bist ein Engel«, sagte er mit verträumtem Gesichtsausdruck. »Du bist ein Engel. Aber du bist nicht mein Engel.«
    Carmen zuckte mit der Schulter und sah Ludevik Hilfe suchend an. Der gab ihr ein Zeichen, indem er mit den Zeigefingern Kreise beschrieb.
    »Dein Engel hat mich geschickt, ich soll ihn heute vertreten.«
    Zuerst dachten sie, die Worte seien nicht bis zu Henry vorgedrungen. Schließlich reagierte er zu ihrer Verwunderung. »Du sollst meinen Engel vertreten?« »Ja.«
    »Und warum?«
    »Dein Engel ist müde und möchte sich ausruhen. Er hat in der letzten Zeit sehr oft mit dir gesprochen.«
    Henrys Gesicht zeigte ein flüchtiges Lächeln. »Ja, das stimmt. Er ist bestimmt müde. Und ich bin auch müde. Ich habe ihm alles erzählt. Wir können uns jetzt beide ausruhen.« Henry ließ sich nach hinten fallen und schloss die Augen. »Jetzt ausruhen, endlich ausruhen.«
    Ludevik beugte sich über Henry, als der Türgong ertönte. Carmen zuckte zusammen.
    »Der Krankenwagen«, meinte Ludevik. »Ich lasse die Leute herein.« Er wollte gehen,

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