Das Erwachen
er die am Boden Liegende, kam ihr aber auch jetzt nicht zu nahe.
»Ja«, antwortete Carmen. Und dann wieder: »Ja, es ist Sarah.«
»Nie und nimmer. Sarah von Rönstedt ist tot. Ich selbst habe die Nachricht überbracht.« Damit war für Breuer der Fall erledigt. Blieb nur noch die Frage, wen er denn nun wirklich vor sich hatte. Aber das würde sich auch noch aufklären. In zwei oder drei Tagen spätestens würde er es wissen.
Carmen kniete sich neben die Frau, hob den Kopf hoch und legte ihn in ihren Schoß. »Sarah, arme Sarah. Was hast du alles mitgemacht.«
Breuer schnaufte, jetzt hatte er es auch noch mit einer überdrehten Ärztin zu tun.
Die Frau schlug die Augen auf und schaute Carmen an.
»Carmen«, flüsterte sie. Und dann wieder »Carmen.«
Sie und sie
Saarburg hatte seine Sensation. Vor wenigen Jahren der Rheinland-Pfalz Tag mit mehr als achtzigtausend Besuchern, der die kleine Stadt für eine kurze Zeit zum Mittelpunkt des Bundeslandes machte, und zwar für exakt zwei Stunden Übertragungszeit im regionalen Fernsehen, und nun diese ungemein spannende Familiengeschichte der von Rönstedts.
Reporter fielen in die Stadt ein, mehrere Fernsehteams, die alles und jeden filmten. Und fast alle Saarburger, die man fragte, hatten es so kommen sehen und schon seit längerem so etwas oder Ähnliches erwartet. Vielleicht sogar noch schlimmer. Das mit den von Rönstedts konnte ja nicht gut gehen. Vor Jahren die Eltern, Selbstmord, dann der Vater von Frau von Rönstedt, auch Selbstmord. Und dass Sarah tödlich verunglückt sei, daran habe niemand wirklich geglaubt. Dem Henry trauten sie alles zu. Auch mit kleinen Mädchen hatten ihn schon einige gesehen. Oder zumindest hatten sie davon gehört. Von einem guten Bekannten. Aber der wüsste es aus sicherer Quelle. Aus ganz sicherer Quelle.
Sarah war in das örtliche Krankenhaus eingeliefert worden. Die ersten Untersuchungen zeigten Untergewicht, Folgen von Mangelernährung, Pilzbefall am Körper und aufgescheuerte, zum Teil entzündete Stellen, sowie Quetschungen an den Brüsten und den Innenseiten der Oberschenkel. Aber sie erholte sich zur Überraschung aller und im Gegensatz zu den ärztlichen Prognosen relativ schnell.
Henry hatte man in die Nervenklinik nach Merzig verlegt. Und dort in eine geschlossene Abteilung. Aber um Henry kümmerte sich im Augenblick niemand. Sarah stand im Mittelpunkt und war zum Objekt der Begierde geworden. Als Ärzte verkleidet versuchten Kamerateams, Aufnahmen von ihr zu machen. Nun, es erwies sich als gut, dass das Krankenhaus so klein und überschaubar war und jeder jeden kannte.
Und es erwies sich als gut, dass all diejenigen, die wirklich etwas hätten sagen können, sich von den Medien fernhielten. So blieb denen nichts anderes übrig als zu spekulieren: Von den Toten auferstanden? Wiedergeburt in Saarburg? Henry, ein zweiter Dutreaux? Jekyl und Hyde?
Und zu Wort kam jeder Wegbegleiter Henrys, der sich nicht wehrte. Angefangen vom Kindergarten über die Grundschule bis zum Gymnasium und Studium. Verwandte, Bekannte und all diejenigen, die einmal etwas von den Rönstedts gehört oder ein Auto dort gekauft hatten. Psychologen wurden von Fernseh- und Rundfunkreportern befragt und konnten ungeniert spekulieren, weil es niemanden gab, der sie bremste. Sie stellten die seltsamsten Theorien auf, die nur noch von den Kassandrarufen der Wahrsager und Astrologen überboten wurden. Die Sterne waren Schuld, und da besonders ein gewaltiger Meteorit, der exakt am 17. März des kommenden Jahres einschlagen würde. Gleich hier in Saarburg. Neben der Burg. Das Unheil ziehe ihn an. Alles werde endgültig ausgelöscht. Das Universum reinige sich selbst.
Carmen besuchte Sarah das erste Mal vier Tage nach ihrer Einlieferung. Ein Polizeibeamter stand vor der Tür und hielt Wache. Ungebetene Besucher sollten die Ruhebedürftige nicht stören.
Sarah hatte sich deutlich erholt. Carmen registrierte die Farbe in ihrem Gesicht, sah die gewaschenen und gekämmten kurzen Haare, grellblond gefärbt mit einem dunklen Scheitel, das saubere Nachthemd.
Sie begrüßten sich wie zwei alte Freundinnen, die sich eine längere Zeit nicht gesehen hatten. Und Carmen wischte heimlich zwei Tränen aus den Augenwinkeln.
»Im Krankenhaus fing alles an, hoffentlich endet es nicht auch dort!«, meinte Sarah mit immer noch schwacher Stimme.
»Ich habe mit den Kollegen gesprochen. Du bist in einigen Tagen wieder ganz die Alte.«
Carmen wusste, dass sie log. Sarah
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