Das Erwachen
nur noch betrunken. Oft hat er zwei Tage nicht nach mir geschaut. Und in der Zeit gab es natürlich auch nichts zu essen. In den Eimer durfte ich meine Notdurft verrichten. Die letzten vier Tage, glaube ich, hat er sich nicht mehr um mich gekümmert. Außer zwei Flaschen Mineralwasser gab es nichts. Auch keine Dusche, wie du dich ja überzeugen konntest.«
»Wie konntest du das nur aushalten?« Carmen atmete tief durch. Sie hatte Mitleid mit Sarah. Und trotzdem war sie beruhigt, das Martyrium hatte ein Ende. »Aber lieber hier im Krankenhaus, als auf dem Friedhof.«
»Obwohl es für mich keinen Unterschied gemacht hat«, sagte Sarah. »Ich war auch beerdigt, lebendig beerdigt. Und ich wurde ständig gepeinigt und missachtet. Carmen, es war die Hölle.«
Vielleicht weil Sarah dies so emotionslos ausgesprochen hatte, konnte Carmen sich ausmalen, wie es ihr ergangen sein musste.
Sarah erzählte von den erniedrigenden Momenten, als sie sich, kurz nach dem Duschen, vor Henry stellen musste, damit dieser sie begutachten konnte. Und dann hatte sie sich aufs Bett zu legen, sollte gewisse Posen nachspielen und von Henry vorgegebene unflätige Worte sprechen, mit deren Hilfe er sich erregen wollte.
»Er hat mich genommen wie ein Stück Vieh«, sagte sie leise. »Nur mit noch viel weniger Respekt, als es unter Tieren üblich ist. Tiere quälen einander nicht. Henry hat mich nur gequält. Er hat seine Position, seine Macht ausgenutzt. Er hat mich nur gequält.«
Carmen füllte eine Tasse mit kaltem Tee und gab Sarah zu trinken. »Die Polizei steht vor einem Rätsel, Sarah. Das mit der Ansichtskarte aus Konstanz, die du geschrieben haben sollst, kann sie sich noch erklären. Den angeblich von dir ausgestellten Barscheck über fünfundzwanzigtausend auch.«
»Das verlangte Henry gleich am zweiten Tag von mir«, warf Sarah ein. »Ich erinnere mich.«
»Aber dann wird es für die Beamten knifflig und verworren. Wie konnte Henry es arrangieren, dass Kleidung, Handtasche mit Ausweisen und dein Ehering nach Südfrankreich kamen? Und man dort alles nach einem Unfall bei einer Toten fand? Einer zur Unkenntlichkeit verbrannten Toten, die auch noch hier in Saarburg an deiner Stelle beerdigt worden ist? Gut, Henry hätte Zeit gehabt, dorthin zu fahren. Er war viel unterwegs. Aber …«
»Was aber?«, wollte Sarah wissen.
»Das mit der Toten, Sarah. Die Polizei vermutet, Henry hat …« Carmen sprach den Satz nicht zu Ende, als wolle sie Sarah die Lösung überlassen.
»… hat sie umgebracht?« »Ja.«
»Nie und nimmer«, verteidigte Sarah ihn. »Henry kann niemanden umbringen.«
»So, er kann niemanden umbringen?« Carmen schüttelte verwundert den Kopf, sie sah das anders. »Meinst du denn allen Ernstes, er hätte dich später einfach laufen lassen? Damit du jedem hättest erzählen können, was dir widerfahren ist? Glaubst du wirklich daran?«
Sarah senkte den Kopf und schwieg. Und sie dachte nach. Aus diesem Blickwinkel hatte sie ihre Lage bisher nicht betrachtet. Vielleicht, weil sie eine andere Einschätzung hatte als Carmen? Und weil sie die Hintergründe besser kannte?
Nach wenigen Sekunden wollte sie wissen: »Wenn du so davon überzeugt bist, Carmen, warum hat er es denn nicht getan?«
Die Ärztin wusste darauf auch keine Antwort. »Du warst ja offiziell tot. Er hätte dich nur irgendwo vergraben müssen. Niemand hätte je nach dir gesucht.« Und nach einigen Sekunden fügte sie hinzu: »Vielleicht wollte er noch etwas von dir? Oder er wartete den richtigen Moment ab? Falls er dazu noch in der Lage gewesen wäre«, schränkte sie ein. Und dann, als käme sie erst jetzt darauf: »Hat dich Henry irgendwelche Papiere unterschreiben lassen?«
Sarah dachte nach. »Außer dem Scheck sonst nichts«, war sie sich sicher. »Nur den Barscheck.«
»Ich verstehe das alles nicht«, meine Carmen leise mehr zu sich selbst. »Das ergibt doch alles keinen Sinn.« Und aufschauend wollte sie dann wissen: »Hat Henry dir Medikamente gegeben?«
»Ja, ich glaube zumindest. Ich habe mich immer müde und schlapp gefühlt. Und ich konnte mich nicht konzentrieren, vielleicht wegen der Erinnerungslücken. Und ich hatte auch keinen Lebenswillen. Alles war leer, weit weg, ohne Hoffnung. Im Grunde genommen war mir nach etwa zwei Wochen alles einerlei. Ich wollte nur noch …«
Carmen nickte verstehend. Lange betrachtete sie Sarahs Gesicht, als gäbe es dort ein Indiz oder einen Hinweis, von dem sie noch nichts wusste.
Nun war es Carmen,
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