Das Erwachen
und neben ihr die beiden Labradorhunde, die sie aus dem Tierheim geholt und mitgebracht hatte. Aufgeregt schnuppernd liefen sie auf und ab, bis das Tor auf die Seite glitt.
Eine solch stürmische Begrüßung hatte Sarah noch nicht erlebt. Die Hunde sprangen an ihr hoch, trollten um ihre Beine, stießen sie mit der Schnauze an und zupften am Ärmel des Bademantels. Erst nach einigen Minuten fand Sarah Gelegenheit, sich Carmen zuzuwenden.
»Schade, dass ich kein Hund bin«, scherzte die Ärztin und küsste Sarah auf die Wange. Sarah wollte zuerst zurückzucken, ließ es dann jedoch geschehen. An so viel Nähe musste sie sich erst noch gewöhnen.
Während sie zum Haus gingen, scharwenzelten die Hunde um sie herum, hüpften vor Freude wie kleine Kälber mit allen Vieren zugleich in die Luft und spielten miteinander.
»Das ist der Unterschied zwischen Mensch und Tier«, begann Sarah zu philosophieren. »Tiere verstellen sich nicht und zeigen offen ihre Gefühle. Eigentlich schade, dass es die Menschen nicht auch können.«
»Einige tun es vielleicht, aber die meisten haben Angst, sich zu entblößen. Oder aus sich herauszugehen, zu schreien und zu toben und nicht nur zu dulden wie ein braves Lamm. Sind wir nicht selbst das beste Beispiel dafür? Wir haben doch alles für uns behalten und nur geschluckt. Immer nur geschluckt und geduldet, bis zur Selbstaufgabe. Und die begann schon nach den ersten Enttäuschungen, die uns unsere Männer bereitet haben. Gleich nach der Hochzeit. War es nicht so?«
Sarah nickte. »Ich hatte später wahnsinnige Angst, Gefühle zu zeigen. Und jetzt kommt es mir so vor, als hätte nicht ich diese Gefühle erlebt, sondern eine andere. Alles ist so weit weg für mich. So weit, dass ich denke, ich werde nie mehr solche Gefühle haben können.«
»Da kennst du uns Frauen aber schlecht, Sarah. Ich wette mit dir, wir würden wieder auf unsere Männer hereinfallen, auf ihren anfänglichen Charme, ihre Versprechungen, die kleinen Aufmerksamkeiten. Männer sind nun mal wie Bergsteiger. Wenn sie den Gipfel erklommen oder erstürmt haben, dann ist der Berg für sie uninteressant geworden.«
»Wouh, wo hast du das denn her?«
»Fiel mir gerade so ein. Eigentlich schade, dass Männer so sind, findest du nicht?«
»Und wir?«, fragte Sarah. »Sind wir so viel anders? So viel besser?«
»Ja, wir sind schon anders«, antwortete Carmen bestimmt. »Wir sind anders. Oder zumindest ich«, fügte sie mehr zu sich selbst hinzu. »Viele Dinge, die Männer tun würden, würde ich nie tun.«
»Wie soll ich das verstehen?«
Ohne auf die Frage einzugehen, wollte Carmen wissen: »Wie gut kennst du dich? Dich und deine Gefühle?«
Sarah antwortete nicht sofort. »Seltsame Frage. Kann man sich auf seine Gefühle bezogen überhaupt kennen? Kann man einfach sagen, gestern habe ich so reagiert, also werde ich heute in einer ähnlichen Situation auch so reagieren?«
Carmen meinte etwas anderes. »Deine Gefühle zu Männern, zu den Männern, die du bisher im Leben kennen gelernt hast. An die kannst du dich doch erinnern. Wer dir sympathisch war, wer nicht. Die erste große Liebe, die letzte große … Enttäuschung.«
Sarah schaute Carmen an und wartete, was sie noch sagen wollte.
»Und was empfindest du bei Frauen? Bei mir zum Beispiel? Welche Gefühle hast du dann?«
»Du bist mir sympathisch, mehr als sympathisch. Ich glaube, wir werden gute Freundinnen.«
Sie setzten sich nun endlich vor das große Wohnzimmerfenster mit dem Panoramablick.
»Was empfindest du, wenn ich dich streichle?«
Carmens Fingerkuppen glitten sanft über Sarahs Unterarm. Sie bemerkte, wie sich die feinen Härchen aufstellten. Und sie bemerkte, wie Sarah sich verkrampfte.
»Na, was empfindest du?«
»Auf was willst du hinaus?« Auf Sarahs Stirn hatte sich eine Falte eingekerbt, die Augenbrauen waren leicht angehoben. »Ein Test oder so was?«
Carmen schüttelte den Kopf. »Kein Test. Aber natürlich will ich auf etwas hinaus. Und zwar auf den Punkt, ob du wirklich deine Gefühle kennst, ob du wirklich schon einmal richtige, tiefe, dich erfüllende schöne Gefühle kennen gelernt hast. Die dich auf Wogen hochgehoben, dich hin- und hergerissen, dir eine Gänsehaut nach der anderen bereitet haben. Die so intensiv waren, dass du beruhigt sein konntest, es könne keine Steigerung geben. Du hättest gerade den Olymp bestiegen und hättest vor Glück und vor Wollust sterben können.« Erneut streichelte Carmen Sarahs Unterarm. Langsam
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