Das Erwachen
engen Kontakt zu Frau von Rönstedt habe.
Am kommenden Tag, einem Samstag, war Carmen nur für kurze Zeit bei Sarah. Sie händigte ihr die Post aus und sagte, sie fahre mit Ludevik nach Merzig zu Henry. Es interessiere sie sehr, was aus ihm geworden sei und wie er sich jetzt gäbe. Sarah nahm diese Nachricht hin, als wäre sie ohne Bedeutung. Lediglich die Augen flackerten und verrieten ihren inneren Zustand.
Ludevik ließ auf der halbstündigen Fahrt nach Merzig erneut das Tonband laufen, welches er bei Henrys letztem Besuch in seiner Praxis aufgenommen hatte.
»Das mit dem Pflaster habe ich Ihnen ja schon erklärt«, meinte Ludevik später. »Henry hat es unter ein Regal geklebt, quasi als Indiz, dass er keinen Traum gehabt hat.«
Carmen legte einen Finger auf die Lippen. Und dachte nach. »Also überlegt und mit voller Berechnung. Waren Sie nicht anschließend im Weinkeller?«, fragte sie nach einigen Sekunden.
»Ja. Ich habe ihn mir genau angeschaut.«
»Von Sarah natürlich keine Spur.«
»Selbstverständlich nicht.«
»Sehen Sie, eiskalte Berechnung.«
»Was wollte er damit bezwecken?«
»Ohne jetzt von Rönstedts Gedankengänge zu kennen, hat er für dem Fall vorbauen wollen, dass man auf den Verdacht kommen könnte, Sarah sei im Hause.«
»Wieso Verdacht, sie sei im Hause? Sarah war für uns alle tot. Und beerdigt.«
Darauf wusste Carmen keine Antwort.
Henry sah sauber und gepflegt aus in seiner hellen Anstaltskleidung und den viel zu großen Hausschuhen. Aber er wirkte müde und matt und in allen Bewegungen langsam. Carmen wusste, man hatte ihn ruhiggestellt. Die Chemie half in solchen Fällen immer, auf sie war Verlass.
»Hallo Klaus«, begrüßte Henry den Psychologen mit leiser Stimme und streckte ihm unsicher eine Hand hin. Anschließend betrachtete er Carmen und bemühte sich, sie einzuordnen. »Kennen wir uns?«
»Ich bin eine Freundin Ihrer Frau«, sagte Carmen.
»Sarah, meine liebe Sarah.« Henry sprach langsam und senkte den Kopf. »Dass sie so früh sterben musste. Sie hätte es besser verdient.«
Ludevik und Carmen setzten sich, Henry nahm ihnen gegenüber Platz.
»Henry, wie geht es dir?«
»Gut.«
»Weißt du, warum du hier bist?«
»Damit ich endlich einmal ausschlafen kann. Ich bin immer so müde, so schrecklich müde.«
»Henry, du warst bei mir in der Praxis, wegen deiner Träume. Erzähl mir von deinen Träumen.«
Henry überlegte. »Ich habe keine Träume.«
»Und wie ist es mit den Engelstimmen?«
»Engelstimmen?« Henry neigte den Kopf zur Seite und erweckte den Anschein, als lausche er. »Engel haben doch keine Stimmen. Ich habe noch nie eine gehört. Hast du schon mal einen Engel gehört, Klaus?«
»Nein.«
»Siehst du.« Henry lächelte flüchtig.
»Aber wenn man träumt, dann kann es schon mal sein, dass man eine Engelstimme hört. Henry, hast du im Traum schon mal so eine Stimme gehört?«
Abermals neigte Henry den Kopf zur Seite und antwortete bedächtig: »Ja, im Traum schon. Ganz bestimmt. Früher, vor langer Zeit. Jetzt träume ich nicht mehr. Wenn ich mich ins Bett lege, dann schneidet irgendjemand mein Leben ab. Und morgens werde ich wieder geboren. So ist das, Klaus. Ich werde jeden Tag geboren und sterbe jeden Abend. Aber abends kurz vor dem Sterben weiß ich nicht, ob ich auch wieder geboren werde.«
Carmen lief ein Schauer über den Rücken. Sarah hatte etwas Ähnliches gesagt: Sie würde jeden Morgen als achtundzwanzigjähriges Baby auf die Welt kommen.
»Wäre es schlimm, wenn du nicht mehr geboren würdest?«
Henry seufzte. »Weiß nicht. Wenn ich es vorher wüsste, dann vielleicht. Aber so …? So ist es mir egal.«
Henry schaute auf seine gefalteten Hände und konnte nicht sehen, wie Carmen und Ludevik sich einen schnellen Blick zuwarfen.
»Wann hast du Sarah zum letzten Mal gesehen?«
Zuerst dachten die beiden, Henry hätte ihre Frage nicht verstanden. Nach geraumer Weile antwortete er: »Das ist schon lange, lange her. Sehr lange her. Ich weiß es nicht mehr so genau. Ich kann mich auch nicht mehr gut erinnern. Hatte sie nun ihre Haare kurz oder waren sie lang«, stellte er sich selbst eine Frage. »Ich weiß es nicht mehr.«
»Wo hast du sie denn gesehen?«
Henry schaute Ludevik an. »Wo habe ich sie gesehen?«, wiederholte er für sich. Man sah ihm an, dass er sich bemühte, dies zu klären. Und dann begann Henry zu zucken. Sein Oberkörper schüttelte sich, der Kopf fiel nach vorn. »Es war schlimm, Klaus. Sarah war ganz hell
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