Das Erwachen
verwundert geantwortet und mir noch zwei gegeben. Aber seit diesem Tag hat er mich so seltsam angeschaut.«
Henry hatte aufgehört, Sarah und Carmen sahen sich irritiert an.
»Na, meine Engelstimme, ist das nicht eine schöne neue Geschichte für dich gewesen?«, war Henry wieder zu hören. »Und kein Ton kam über meine Lippen. Ich war damals, glaube ich, dreizehn oder vierzehn. Oder zwölf? Ich weiß es nicht mehr so genau. Kein Ton kam über meine Lippen. Noch am gleichen Abend bin ich zu meinem Papa gegangen und habe zu ihm gesagt: Papa, soll ich dir mal was zeigen? Was willst du mir denn zeigen, mein Junge, hat er geantwortet. Ich will dir zeigen, dass ich erwachsen bin. Schau doch nur. Ich hatte ein Messer genommen, und mir einen tiefen Schnitt in den Unterarm beigebracht. Sofort schoss das Blut hervor. Siehst du, habe ich gesagt, ich bin erwachsen. Kein Ton kommt über meine Lippen. Und da habe ich ein zweites Mal geschnitten und meinem Papa den Arm hingehalten. Er ist blass geworden und nach hinten gekippt. Und ich habe für ihn den Doktor gerufen, der mich dann auch verarztet hat. Noch insgesamt viermal habe ich mich später in den Unterarm geschnitten. Und immer ist mein Papa blass geworden. Kannst du mir sagen, wieso? Er war doch ein Mann. Aber wieso ist er blass geworden? Er war doch auch ein Jäger und hat Tiere getötet und ihnen das Fell abgezogen. Aber wieso ist er bei mir blass geworden? Weil er es nicht erwartet hat?« Henry war zu hören, wie er kratzende Geräusche verursachte. Und er kicherte erneut. »Mein Papa«, sprach er lachend weiter. »Er tat so stark und war so schwach. Ich habe ihn durchschaut. Ich war viel stärker als er. Und seit dem Tag konnte er mir nicht mehr weh tun, das wusste er. Und er hatte Angst, ich könnte ihm weh tun.«
Sarah und Carmen schwiegen, nachdem sich der Recorder ausgeschaltet hatte, und überlegten. Nur ihr Atmen war zu hören. Als benötigten sie eine Bestätigung, ließen sie das Band erneut laufen.
»Was Henry sagt, stimmt wirklich«, meinte Sarah anschließend. »Er hat am rechten Unterarm etliche kleine, gerade Narben. Jetzt weiß ich auch, woher sie stammen.«
Die anderen Kassetten wurden überprüft. Schnell kamen die beiden Frauen dahinter, dass auch sie von Henry besprochen worden waren. Sie wunderten sich, weil die Polizei die Kassetten nicht entdeckt hatte. Vielleicht, so mutmaßten sie, weil sie so offen herumstanden. Was hatte die Polizei auch für einen Grund, diese Kassetten von Elvis, Buddy Holly und den Beach Boys zu überprüfen?
»Sarah, es ist besser, wenn wir sie uns gemeinsam mit Ludevik anhören. Was meinst du?«
Sarah war einverstanden, sie telefonierte mit Ludevik. Er habe erst nach achtzehn Uhr Zeit. Das war den beiden recht. Ob er, Ludevik, hier bei ihnen vorbeikommen könne, fragte Sarah. Ludevik stimmte zu und sagte, er würde auch das eine, von Henry besprochene Tonband mitbringen.
Mitternacht war vorüber, als sie alle Aufzeichnungen gehört hatten. Die Stimmung im Wohnzimmer war gedrückt. Sie sahen sich flüchtig an, schauten aber schnell wieder weg, als sei es jedem unangenehm, in Anwesenheit der anderen Zeuge von Henrys intimer Beichte geworden zu sein. Intim deswegen, weil Henry sich entblößt und einen Blick in sein Innerstes freigegeben hatte. In ein zerrissenes, unstetes, wechselhaftes und bedauernswertes Inneres. Ein Blick in Henrys kranke Zone, die er so lange vor allen verborgen gehalten hatte.
»Ein Tonband müssen wir der Polizei vorspielen. Aus deren Sicht könnten Straftatbestände angesprochen worden sein. Aber die anderen gehen nur uns etwas an. Sind wir da einer Meinung?«
Carmen und Sarah nickten gleichzeitig.
»Sarah, dann möchte ich dich bitten, diese anderen Bänder unter Verschluss zu nehmen.«
»Klaus, nimm du sie bitte mit. Bei dir sind sie besser aufgehoben. Außerdem kannst du auch eher ermessen als wir, welche Bedeutung sie haben.«
Sarah stand auf ging zur kleinen Bar und fragte übertrieben lustig, um ihre eigene Befangenheit zu überspielen: »Wer möchte etwas trinken?«
Ihnen war nach Cognac. Um einiges mehr als normal. Den Umständen angepasst und ihrer Stimmung, die einer Aufmunterung, gleichgültig in welcher Form auch immer, bedurfte.
Carmen, selbst Ärztin und Psychiaterin, hatte Henry nicht therapiert, nie mit ihm mehr als einige belanglose Sätze gesprochen. Zwar konnte sie ihn mit Hilfe von Sarah und einigen wenigen persönlichen Begegnungen einschätzen, aber sie maßte
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