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Das Erwachen

Das Erwachen

Titel: Das Erwachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edwin Klein
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vorhin gehört? Henry hat an sich gezweifelt, weil er nicht mehr wusste, wer mit seinem Handy telefoniert, wer in seinem Auto gesessen, sein Arbeitszimmer benutzt und den Monitor angelassen hat. Alles Dinge, die allein seiner Kontrolle unterlagen. Und seiner Verantwortung. Er stellte sich selbst, seine Korrektheit, seine Verlässlichkeit in Frage. Er fühlte sich von sich selbst hintergangen und verraten. Er war von sich enttäuscht und hat schließlich die Kontrolle verloren. Das war der Beginn vom Ende.«
    »Eines ist mir immer noch unverständlich«, begann Sarah. »Warum hat Henry überhaupt diese Bänder besprochen? Falls jemand außer ihm sie zu hören bekam, dann waren diejenigen ja automatisch über sein Fehlverhalten informiert. Hat er das denn nicht bedacht?«
    Ludevik hatte ein Problem und überlegte einige Sekunden. »Wenn wir versuchen, uns in ihn hineinzuversetzen, dann geschah auch dies wiederum aus einem für Henry logischen Grund. Er wollte Ordnung in sein Leben bringen. Und seine Art der Ordnung bestand darin, diese Bänder zu besprechen, Dinge zuzugeben, die ihn im Unterbewusstsein so sehr beschäftigt hatten – um sich dadurch zu entlasten. Einmal ausgesprochen und auf Bänder aufgezeichnet – andere schreiben sich ihre Probleme von der Seele –, hatte er aus seiner Sicht die Ordnung wiederhergestellt. So wie er jeden Tag mehrmals duschte, nicht um sich zu reinigen, sondern um alles Unangenehme wegzuspülen, spülte er mit den auf Band gesprochenen Worten seine Schuld weg. Und um keine zeitliche Beziehung zur Gegenwart aufkommen zu lassen, das hätte ihn ja wiederum an sich selbst zweifeln lassen, ihn ja vor sich selbst verdächtig gemacht, sprach Henry meist aus der Sicht eines Kindes, aus der eines Heranwachsenden. Seine Wortwahl war diejenige, die er zum tatsächlichen Zeitpunkt der Vorfälle benutzte.«
    Ludevik schaute die beiden Frauen an. Sein Blick verweilte bei Carmen. »Sie sind nicht meiner Meinung?«, fragte er.
    »Doch, doch«, entgegnete Carmen, die aus ihren Gedanken hochgeschreckt war. »Ich bin voll und ganz ihrer Meinung. Nur frage ich mich, ob diese Meinung schon endgültig ist, ob wir sie nicht noch einmal revidieren müssen.«
    »Weil neue Erkenntnisse hinzukommen?«
    Carmen nickte.
    »Das ist mein Beruf«, lachte Ludevik. »Ich muss ständig meine Meinung revidieren.«
    Carmen stand auf. »Ich bin gleich wieder hier.« »Wohin gehst du?«
    Carmen gab Sarah mit einem Blick zu verstehen, sie brauche sich keine Sorgen zu machen. »Zwei Minuten, mehr nicht.«
    Und als Ludevik sich erheben wollte, sagte Carmen, sie wolle allein gehen.
    Es dauerte höchstens fünf Minuten, bis Carmen wieder ins Wohnzimmer trat. Sie stellte einen Pappkarton mitten auf den Tisch und schaute in die Runde.
    »Wo hast du das her?«
    »Aus der Garage, Sarah.«
    »Und was ist drin?«
    »Sieh nach.«
    Sarah öffnete den Karton und verteilte die Kleidungsstücke auf Tisch, Stühle und Boden. Es handelte sich überwiegend um feine, durchsichtige Unterwäsche, schwarze Strümpfe mit Naht aus Nylon, einen Strumpfhalter, einen Hüfthalter, Slips, einige Büstenhalter, zwei eng geschnittene Röcke und zwei ärmellose Abendkleider.
    »Was soll das?«, wollte Sarah wissen.
    »Von dir ist das doch nicht, oder?«, fragte Carmen unnötigerweise, denn alle, auch Ludevik, hatten sofort erkannt, dass es sich um ältere Modelle handelte.
    »Natürlich nicht.« Entrüstet warf Sarah ihr einen Blick zu. »Ich brauche keinen Hüfthalter. Und ich trage ausschließlich Strumpfhosen. »Manchmal allerdings auch«, fügte sie leise hinzu, »welche mit einer Naht.«
    Carmen berichtete, auf welchem Wege sie von den Kleidungsstücken erfahren hatte und meinte, es seien wohl welche von Henrys Mutter.
    Für einige Sekunden schien ihnen diese Erklärung zu genügen. Unvermittelt stürmte Sarah aus dem Zimmer, kam mit einem Fotoalbum zurück und begann zu blättern.
    »Sieht sie nicht zu kräftig dafür aus?«
    »Wie willst du das herausfinden?«
    Sarah entkleidete sich bis auf die Unterwäsche, ohne Ludeviks überraschten und zugleich neugierigen Blick zu beachten, und zog nacheinander die Röcke und die beiden Kleider an. Zum Schluss auch noch den Hüfthalter.
    »Ich bin sehr schlank«, stellte sie fest. »Und diejenige, der diese Dinge hier gehört haben, war kaum kräftiger als ich. Vielleicht drei oder vier Kilogramm. Henrys Mutter jedoch wog mindestens zwanzig mehr als ich. Das weiß ich von Henry. Und ich habe sie früher

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