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Das Erwachen

Das Erwachen

Titel: Das Erwachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edwin Klein
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sich nicht an, ihn aus beruflicher Sicht zu beurteilen. Dazu war sie zu voreingenommen und es fehlten ihr äußerst wichtige Indizien. Deshalb fragte sie Ludevik als Henrys Therapeuten: »Habe ich das richtig verstanden, dass Henry in unseren Augen so lange überheblich, selbstsicher und alert geblieben ist, bis ihm sein Ordnungsgerüst abhanden kam?«
    Ludevik stimmte zu und beschränkte sich in seiner Erklärung wegen Sarah auf die wesentlichsten Fachbegriffe. »Wie wir ja gehört haben, hatte Henry Angst. Der große, starke Henry hatte Angst, und das schon seit seiner Kindheit. Und seine Eltern hatten auch Angst. Deshalb bauten sie für sich und ihren Sohn dieses Ordnungsgerüst auf. Es war wie eine Art Ritterrüstung, die half, sich zu verstecken und die gleichzeitig auch Schutz nach außen bot. Und Henry hat diesen Schutz sehr, sehr nötig gehabt.«
    »Und weil sein Ordnungsgerüst funktionierte, alles an seinem Platz war, der ganze Tagesablauf von ihm so akkurat eingerichtet wurde, dass er sich daran anlehnen konnte, deshalb auch seine komischen Ausbrüche und emotionalen Erregungen, wenn einmal etwas nicht stimmte? Wenn einer unerlaubt oder unerwartet in sein schönes Gefüge eingebrochen war?«, wollte Carmen wissen.
    »Ich bin zwar nur Schulpsychologe«, gab Ludevik zu bedenken, »aber die Merkmale sind so signifikant, dass man dies ohne weiteres sagen kann. Henry fühlte sich bloßgestellt und provoziert, wenn jemand in seine Ordnung eingriff. Und da er ja selbst nie Fehler machte, waren es immer die anderen, die seine Ordnung zerstörten. Für ihn war das wie ein persönlicher Angriff. Später, als sein Gerüst an Standfestigkeit verloren hatte, musste es ihm vorgekommen sein, als zöge man einem Ertrinkenden den Rettungsring weg. Und genau wie ein Ertrinkender tat er das Falsche, indem er wild um sich schlug. Physisch und auch verbal.«
    »Und weshalb die Gewalttätigkeiten gegen Sarah? Die Schläge, die Vergewaltigungen?«
    Ludevik überlegte einige Sekunden. »Einmal aus Angst, die seit vielen Jahren sein ständiger Begleiter gewesen ist, und dann auch noch aus einer seltsamen Lust heraus, Macht auszuüben. Henry war von Seiten des Elternhauses Macht gewohnt. Und Sarah als seine Ehefrau, die er täglich sah, musste eben diese Machtdemonstrationen ausbaden. Und sein Angstgefühl. Er benötigte den permanenten Beweis der Macht, sozusagen als Schutzschild, um seine Angst im Zaum zu halten. Auch im Geschäft und als Vorsitzender des SUV.«
    »Erklärt das wirklich Henrys krankhaftes Verhalten gegenüber Sarah? Seine Machtspiele, die sexuellen Quälereien? Oder gibt es vielleicht nicht noch einen anderen Anlass für Henrys Perversionen?«
    Ludevik überlegte und zuckte mit der Schulter. Einmal setzte er an, als wolle er eine Erklärung abgeben, ließ es dann jedoch. Er schien sich unschlüssig zu sein. Oder er hütete sich davor, falsche Vermutungen anzustellen.
    »Ich glaube, wir machen es uns zu leicht, wenn wir immer nur Henrys Fehlhandlungen aufzählen und dabei vergessen, dass es dafür eine Ursache geben muss. Eine Fehlhandlung ist, Sarah zu schlagen. Was aber genau ist in seinem Unterbewusstsein abgespeichert, was eben diese Fehlhandlung provoziert?«
    Ludevik schaute die Frauen an und erwartete keine Antwort. »Henry hat bereits als Kind sehr viel Kraft aufwenden müssen, um Bewusstseinsinhalte zu verdrängen. Sein Ich hat das Vergessen oder Verdrängen als einfache Fehlschaltung registriert. Wir versuchen nun, Henrys Fehlleistungen zu analysieren. Jede Fehlleistung ist auf einen kurzen Nenner gebracht ein Kampf zwischen bewussten und unbewussten Absichten.«
    Carmen wollte konkrete Antworten und nicht zu viel Unterweisung in der Theorie. »Und wie kam es dann zu diesem Wandel? Dem Zusammenbruch von Henry? Dieses sich gehen lassen?«
    »Frau Dr. Sigallas, dies war für Henry aus seiner Sicht die logische Konsequenz. Wann genau hat denn sein Zusammenbruch begonnen?«
    Carmen wusste es nicht und Sarah meinte: »Ich glaube in dem Augenblick, als er niemandem mehr die Schuld an seiner Lebensunordnung geben konnte. Henry also ganz deutlich sah, er allein war der Verursacher. Es gab keine Schuldzuweisung mehr an Dritte.«
    »So sehe ich es auch, Sarah. Um auf deine Beispiele im Haus mit dem Eindecken des Tisches zurückzukommen: Wen hat er verantwortlich gemacht?«
    »Mary und mich. Zum Schluss nur noch mich. Seine ganze Wut konzentrierte sich auf mich.«
    »Ja, schlimm, sehr schlimm. Und was haben wir

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