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Das Erwachen

Das Erwachen

Titel: Das Erwachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edwin Klein
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Papa unbedingt sehen. Und mit ihm reden. Vielleicht zum ersten mal richtig reden, wie das Männer so tun. Aber als ich hinkam, da war die Polizei schon da. Und man ließ mich nicht ins Haus. Da bin ich hinten herangeschlichen, habe eine Leiter ans Haus gestellt und im ersten Stock ins Zimmer geschaut. Und da sah ich sie liegen, viele fremde Menschen um sie herum, die eigentlich dort nichts zu suchen hatten. Papa lag neben Mami, er hatte sie im Arm. Und er sah trotz des vielen Blutes irgendwie zufrieden aus. Und seine Augen schauten genau in meine Richtung. Er hat mich gesehen. Und ich habe ihm zugewinkt. Und mich von ihm verabschiedet. Dann bin ich in die Garage gegangen, habe mich im Dunkeln in eine Ecke gesetzt und geweint. Es konnte ja niemand sehen. Und Mami und Papa waren ja tot.«
    Breuer war der erste, der sich regte. Er ging zum Recorder, nahm das Tonband und gab es Sarah.
    »Frau von Rönstedt, ich habe von diesem Band keine Kenntnis. Was auf ihm zu hören ist, hat mit uns, der Polizei, nichts zu tun, geht uns auch nichts an. Das hier«, er deutete auf das Band, »ist privat. Sehr privat.«
    Sarah schaute den Beamten verwundert an, der eine Größe zeigte, die sie ihm eigentlich nicht zugetraut hatte.
    »Wie alt war Henry, als sich seine Eltern umgebracht haben?«, fragte Ludevik, der sich mit Sarah und Carmen in seine Praxis zurückgezogen hatte, wo man ungestörter war.
    »Zweiundzwanzig«, antwortete Sarah.
    »Und wie hat er geredet? Ich meine, die Art?«
    »In der Überleitung normal wie ein Erwachsener, dann eher als Kind oder Jugendlicher.«
    »Genau.« Ludevik nickte mehr zu sich selbst. »Er spricht nicht als zweiundzwanzigjähriger, sondern als jemand, der jünger ist. Vielleicht, um sich selbst eine Ausrede zu liefern, als sei ein Jüngerer nicht reif genug gewesen, die Tragweite der Ereignisse zu erahnen oder vorauszusehen. Und sie zu beeinflussen, sie zu verhindern. Dadurch möchte er sich indirekt entschuldigen.«
    »Oder es hat bei Henry in diesem Alter einen markanten Vorfall gegeben, den man als Auslöser für sein späteres Verhalten betrachten könnte«, warf Carmen ein. »Und in der Folgezeit spricht immer wieder dieser damals gequälte oder bestrafte Henry.«
    »Ja, klingt logisch.« Ludevik stützte das Kinn auf, starrte die Schuhspitzen an, wirkte abwesend und zog sich in seine Gedankenwelt zurück. Nach wenigen Sekunden und einem Seufzer kam er wieder auf das Tonband zu sprechen. »Was Henry dort gesagt hat, ist ein einziger Schrei nach Liebe und Beachtung. Er hat um Liebe und Anerkennung seiner Eltern gebuhlt und sie nicht erhalten. Er hätte alles getan, genauer gesagt er hat alles getan, um sie zufriedenzustellen. Besonders seinen Vater. Ihm war er kurz vor dessen Tod am nächsten.«
    »Und als braver Sohn hat er ihnen auch noch dabei geholfen«, bemerkte Carmen mit bitterem Unterton. »Eine Plastikfolie, damit nicht so viel verschmutzt wurde, sich das Blut nicht verteilte. Sie hatten an alles gedacht.«
    Ludevik sah das anders. Für Henry sei es eine Pflicht gewesen, den Eltern beizustehen. Und ihren Wunsch, aus dem Leben zu scheiden, zu respektieren. Nie hätte er es gewagt, etwas gegen den Willen seiner Eltern zu unternehmen. Diese Unterwürfigkeit, diese Kritiklosigkeit sei ihm schließlich über Jahrzehnte anerzogen worden.
    »Einmal drin, immer drin.« Carmen tippte sich an die Stirn. Sie sah alles pragmatischer. »Henry war gefangen in seinen eigenen Vorstellungen und denen seiner Erziehung. Und die Kraft der Vorstellung ist die wohl größte, leider auch meist die irrationalste.«
    Sarah war als Schülerin einmal hinzugekommen, wie eine Klassenkameradin etwas gestohlen hatte, aber eine andere dafür bestraft wurde. Sie behielt diesen Vorfall für sich, weil die Diebin ihre Freundin war. Und genau diese Unterlassung, um Schuld zu wissen und sich durch eine selbst auferlegte Untätigkeit Schuld aufzuladen, hatte sie lange beschäftigt und gequält, bis sich der Vorfall endlich von selbst aufklärte. Dadurch war ihr Gewissen erleichtert worden, sie brauchte keine Abbitte zu leisten. Und die Schmach hatte ja nicht sie, sondern die andere zu spüren bekommen.
    An diesen Vorfall erinnerte sich Sarah im Augenblick und fragte sich: Was habe ich unterlassen? Und je länger sie darüber nachdachte, desto deutlicher wurde ihr, einen Aspekt, der sich wie ein roter Faden durch ihre Ehe und das Erlebte zog, nicht genug gewürdigt zu haben: Träume. Im Grunde genommen wusste sie nicht viel

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