Das Erwachen
Bier in eine Kneipe zu gehen. Aber ihrem Retter gegenüber wäre das unhöflich gewesen. Er konnte nichts für ihren inneren Gefühlszustand. Und als Carmen genau im richtigen Augenblick die Toilette aufsuchte, bedankte sich Sarah bei ihm.
»Bedanken Sie sich wirklich, oder fühlen Sie sich nur verpflichtet?«, fragte Wellstein. »Vielleicht habe ich Ihnen damals überhaupt keinen Gefallen getan?«
»Doch, schon, im Nachhinein schon.«
»Interessant, die Umschreibung. Also eher auf die jüngste Vergangenheit bezogen«, mutmaßte Wellstein und Sarah bestätigte dies.
»Dann war also Ihr damaliger Entschluss wohlüberlegt. Für Sie eine logische Konsequenz aus dem Vorgefallenen.«
»Ja, genau so ist es gewesen.«
»Wenn ich die Art, wie sie dies sagen, richtig interpretiere, dann wird Sie mein Eingreifen nicht gerade begeistert haben.«
»Damals nicht«, gab Sarah zu. »Woran haben Sie eigentlich erkannt, dass ich von der Brücke springen wollte?«
»Auf der Autobahn trifft man selten Spaziergänger. Und noch seltener welche, die sich anschicken, ein Geländer zu ersteigen. Ich habe Sie aus einiger Entfernung bemerkt, wie Sie etwas hinunter geworfen haben. Als notorisch neugieriger Mensch bin ich langsamer gefahren und konnte gerade noch meine gute Tat für diesen Tag vollbringen. Es war doch eine gute Tat?«
»Ja.« Sarah schaute in die Augen von Wellstein, die trotz der graugrünen Farbe Wärme und Verständnis zeigten. Und sie schaute in ein Gesicht, dem die typischen Falten um die Mundwinkel fehlten, wie sie die Unternehmer des SUV zur Schau trugen als Zeichen von Durchsetzungsstärke. Zumindest Ellwanger und Achterbusch, die Henrys Mimik kopierten, indem sie den Unterkiefer leicht nach vorn schoben und fest auf den Oberkiefer pressten.
»Ich weiß nicht, ob es Sie interessiert«, sagte Wellstein und lächelte. »Ich bin nicht verheiratet.«
»Ich bin verheiratet«, antwortete Sarah.
»Aber nicht glücklich«, vollendete Carmen, die die letzten Worte gehört hatte. »Oder würdest du es anders sehen, Sarah?«
Sarah antwortete nicht. Später sprach sie Carmen darauf an. »Warum stellt du mir meinen Retter vor?«, empörte sie sich. »Ohne mich zu fragen und ohne mich zu warnen?«
Carmen hatte mit dieser Frage gerechnet. »Zum einen, weil es endlich Zeit wird, dass du ihn kennen lernst. Ich habe mich zweimal mit ihm getroffen, aber er scheint nur an dir interessiert zu sein. Habe ich dir schon gesagt, dass er bereits im Krankenhaus nach dir gefragt hat?«
»Nein.«
»Dann weißt du es jetzt. Und zweitens, liebe Sarah, aus dem einfachen Grund, dass du dich etwas mehr dir gegenüber verpflichtet fühlst. Aus dem Leben zu gehen, sich freiwillig zu verabschieden, das ist eine Art von Anmaßung. Zumindest in deinem Fall, wo keine schlimme Krankheit dahinter steckt. Würdest du mir in diesem Punkt zustimmen?«
»Hätte ich Krebs, dürfte ich es also tun.« Sarahs Bemerkung klang patzig.
»Hast du aber nicht. Würdest du mir zustimmen?«
Sarah antwortete nicht.
»Würdest du mir in diesem Punkt zustimmen, wenn du nun die augenblickliche Situation bedenkst? Henry in einer Anstalt, du allein und frei, kannst dich zu jeder Zeit scheiden lassen. Würdest du mir endlich zustimmen?«
Zögernd antwortete Sarah: »Ja.«
»Mehr wollte ich nicht von dir hören.« Carmens Gesicht war undurchdringlich. Irgendwie kam es Sarah vor, als lache sie innerlich. Oder als hätte sie gerade einen Sieg errungen. Frage war nur, welchen!
Sarah hatte in den vergangenen Tagen den Eindruck, als fühlte sich Carmen wegen ihrer intimen Beichte immer noch unbehaglich. Einen Spaziergang im Kammerforst, dem Stadtwald auf der gegenüberliegenden Seite der Saar mit Reitstadion und Jugendzeltplatz, benutzte sie zu einer Aussprache.
»Falls es dich beruhigt, Carmen, eine kleine lesbische Erfahrung habe auch schon gemacht. Aber wirklich nur eine kleine«, fügte Sarah lächelnd hinzu, als sie das erstaunte Gesicht von Carmen sah.
»Stimmt das tatsächlich oder willst du mich nur beruhigen? Mir die Angst nehmen, weil ich mich letzte Woche so weit vorgetraut und dir von einem meiner best gehüteten Geheimnisse erzählt habe?«
»Sollte ich dich deshalb etwa belügen?«
»Nein. Bitte entschuldige.«
»In vielem gebe ich dir Recht, denn ich habe etwas Ähnliches erlebt. Deshalb war ich vor Tagen auch so schweigsam, als du mir deine Erfahrungen mitgeteilt hast. Im Grunde genommen war es nämlich ein Teil meiner eigenen Erfahrungen.«
Sie
Weitere Kostenlose Bücher