Das Erwachen
registrierte mit zwei schnellen Blicken, was geschehen war. Hastig lief ich die Treppe hinunter, um ein Haar wäre ich gestürzt. In mir war ein gefühlsmäßiges Chaos, ich wollte nur weg und mich in einer dunklen Ecke verstecken. Aber im Erdgeschoß wurde ich von Bekannten aufgehalten. Und das war eigentlich das Schlimmste. Ich, voll mit den verwirrenden, mich überlistenden und mich erfüllenden, neuen Gefühlen und Empfindungen, mit einem Gesicht, auf dem all meine Gedanken und Regungen und Geheimnisse geschrieben waren und das vor Erregung glühte, mit Beinen, die zitterten, ich musste mich zu meinen Bekannten stellen und mir deren dümmliche Sprüche über Kunst und alles andere anhören.«
Sarah stand auf, stellte sich an einen Baum. Sie legte ihre Stirn gegen den Stamm, die Hände hatte sie gefaltet wie eine Betende. Oder eine Büßerin, die darauf hoffte, man würde endlich ihr Flehen erhören.
»Hat dein Mann davon erfahren?«
Sarah verneinte. »Im Fernsehen schaute er sich Lesben gerne an, wir kennen auch ein lesbisches Paar und er fand es aufregend und chic, aber für mich hätte er kein Verständnis gehabt.«
»Genau wie mein ehemaliger«, bemerkte Carmen sarkastisch. »Die große Freiheit für sich selbst und ihre toleranten Ansichten, das Biedere und Konservative für die braven Hausmütterchen, so wie wir.«
Sarah löste sich von dem Stamm, stellte sich hinter Carmen und legte ihr die Hände auf die Schulter. »Außerdem lernte ich Vanessa gerade in der Zeit kennen, als Henry immer wieder mit mir ins Bett gehen wollte, um aus mir eine richtige Frau, eine Mutter zu machen. Zum einen wollte ich die Gefühle mit Vanessa auskosten, zum anderen war alles, was mit meinem Körper geschah, ekelhaft und gegen meinen Willen. Eben deswegen war ich so irritiert und verwundert, weil ich bei mir spontan eine bedingungslose, fordernde Bereitschaft feststellte, meine Gefühle mit einer wildfremden Frau zu teilen.«
»Verstehe. Hast du Vanessa noch mal getroffen?«
»Nein. Und ich habe noch nicht einmal ein Wort mit ihr gesprochen. Ich weiß nicht, welchen Klang ihre Stimme hat.«
»Aber du würdest sie gerne wiedersehen.«
Sarah antwortete nicht.
»Damals, in Südafrika, mit …«
»… du meinst Enrique?«
»Ja. Mit Enrique. Ich erinnere mich an deine Schilderung, das muss ja fast wie ein Erdbeben gewesen sein. War das ähnlich wie mit Vanessa?«
»Ähnlich von der Intensität, ja, aber es war ein total anderes Gefühl.«
Wohl zwei Minuten noch stand Sarah schweigend hinter Carmen, als sie sich abwandte und einige Schritte zur Seite ging. Laub raschelte, ein Ast knackte unter ihren Füßen. Übergangslos kam sie auf ein anderes Thema zu sprechen.
»Breuer war gestern bei mir gewesen. Ob ich Anzeige erstatten würde gegen Henry. Er hat mir ein paar Paragraphen vorgelesen.«
Der Wechsel konnte nicht abrupter und desillusionierender sein. Als legte Sarah es bewusst darauf an, die Vergangenheit abzuwürgen, ihren eigenen Gefühlen einen brutalen Dämpfer zu verpassen, sich im Nachhinein für die schönen Momente mit Vanessa zu kasteien.
»Du hast nein gesagt.« »Zumindest werde ich mich zuerst mit meinem Anwalt beraten.«
»Und wie steht es mit der Scheidung, die du ja schon angeleiert hast?«
»Wird auch mit ihm beraten.« Sarah lachte. Carmen sah sie zum ersten Mal seit dem schrecklichen Vorfall lachen. Und eine scheinbare Leichtigkeit ging von ihr aus, die Carmen verwunderte. Oder war diese Leichtigkeit nur gespielt, um zu zeigen, schau her, mir geht es gut, auch ohne Vanessa?
»Gehst du Henry besuchen?«
»Nein.«
»Nie und nimmer?«
Sarah wandte sich ihr zu. »In den nächsten Monaten nicht. Dazu ist noch alles zu frisch.«
»Er ist krank.«
»Hast du nicht einmal zu mir gesagt, dass wir irgendwie alle krank sind?«
»Sarah, du weißt, was ich meine.«
»Wir sind schon ein seltsames Pärchen«, meinte Sarah und schaute lange in Carmens Augen. »Vom Schicksal Betroffene, von unseren Liebhabern Enttäuschte, eine kleine Allianz gegen die Männer.«
Ludevik wirkte am Telefon ernst und reserviert, als er Sarah bat, umgehend in seine Praxis zu kommen. Es gehe, wie nicht anders von ihr erwartet, um Henry. Er möchte dringend mit ihr über ihn reden. Ob sie Carmen mitbringen dürfe, wollte Sarah wissen. Er hatte dagegen nichts einzuwenden. Zwei Stunden später saßen sie ihm in seinem Besprechungszimmer gegenüber und er wollte in Erfahrung bringen, ob sich noch was ergeben habe, sie noch
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