Das Erwachen
alten Standortes total übergangen hatte. Aus Frankreich kamen damals die Arbeitstruppen und aus England, einige sogar aus Polen, getarnt als Weinbergsarbeiter. Und das lange vor dem vereinten Europa und vor Schengen. Ein von Rönstedt konnte so etwas schon vor vielen Jahren möglich machen.
»Mindestens vierzig Arbeitsplätze, ein Ausstellungsraum, so groß wie unsere Tennisplätze«, verdeutlichte Henry es bildhaft für jeden, »bis zu dreißig Shogun können ansprechend präsentiert werden. Wie gesagt, dies muss für heute genügen.« Henry erhielt den erwarteten Beifall.
»Ach ja, bevor ich es vergesse: Standort wird das Gewerbegebiet auf der anderen Seite der Saar sein.«
Unter Applaus schritt Henry, der noch einen schönen Verlauf, gute Unterhaltung und angenehme Gespräche gewünscht hatte, von der Bühne und setzte sich wieder auf seinen Platz.
Die Kapelle begann zu spielen, die ersten Tanzpaare wagten sich aufs Parkett, welches auch wirklich ein Parkett war. Aus Eiche.
»Na du alter Krieger, wohl zu sehr im Nahkampf beschäftigt gewesen«, meinte Achterbusch und deutete auf die Schrammen in Henrys Gesicht.
»Du weißt ja, wie feurig meine Sarah sein kann«, antwortete dieser in einer Lautstärke, die Sarah gerade noch hören konnte.
Henry grinste über das ganze Gesicht, Achterbusch schlug ihm auf die Schulter. Ein guter Witz. Und Ellwanger hätte nur zu gerne mitgelacht.
Sarah hasste diese Selbstdarstellungen der Unternehmer, so wie sie alle Selbstdarstellungen, gleichgültig von wem, hasste. Anfänglich fand sie es als frisch Angetraute eines Henry von Rönstedt noch amüsant. Man begegnete ihr respektvoll, freundlich und scheinbar offen. Mit der Zeit jedoch bekam sie mit, dass das Ansehen ihres Henry sich nur auf das Geschäftliche beschränkte. Privat wollte niemand, außer den Mitgliedern des harten Kerns des SUV, mit ihm zu tun haben. Und genau das war der Grund, warum sie auch keinen Freundeskreis hatten.
»Sarah, was ist denn mit dir passiert«, fragte Ellwanger über den Tisch. Er war gut zu verstehen, weil im Augenblick die Musik nicht spielte.
»Was meinst du denn, Jonas«, fragte Sarah, die Ellwanger den ganzen Abend beobachtet hatte. Er war also vor zwei Tagen dabei gewesen, als Henry nach Hause gekommen war und sie zu viel getrunken hatte. Ellwanger würde alles für Henry tun, wenn dieser ihm etwas versprach oder ihn einfach nur mehr beachtete.
»Mit deinem Gesicht. Stimmt etwas nicht?«
»Da kann Henry vielleicht besser Auskunft geben. Hat er dir noch nichts erzählt?«
Jonas verneinte.
Sarah nahm langsam die Brille ab. »Schließlich war er maßgeblich mit seinen Händen daran beteiligt.«
Um sie herum verstummte sofort jede Unterhaltung, den kleinen Dialog zwischen Ellwanger und Sarah hatten erstaunlich viele mitbekommen. Und damit auch diejenigen, die hinter Sarah saßen und die übrigen Gäste im Saal wussten, worum es ging, stand Sarah auf, rückte akkurat ihren Stuhl an den Tisch, nahm ihre Handtasche, drehte sich in die eine Richtung, überlegte es sich, drehte sich in die andere Richtung und ging langsam hinaus zu den Toiletten. Dabei winkte sie jedem zu, den sie erkannte.
»Das war aber eine gelungene Show, meine Liebe«, wurde sie vor dem Saal angesprochen. Sarah war erstaunt, dass Carmen Sigallas auch anwesend war.
»Sie hier? Haben Sie sich verirrt?«
Carmen lächelte amüsiert. »Nein. Ich hatte gehofft, Sie hier zu sehen.« Die beiden Frauen begrüßten sich, gingen gemeinsam zur Toilette und reihten sich in die Schlange ein. Nach wenigen Minuten war eine der Kabinen frei. Auf der Männertoilette gab es solche Wartezeiten nie. Anschließend bestellten sie im Foyer an die Bar Sekt.
»Die Brücke haben Sie überstanden, aber Ihren Mann noch nicht.« Carmen deutete auf Sarahs Auge. »Es war doch Ihr Mann?«
Sarah reagierte nicht, aber das war für Carmen Antwort genug.
»Trinken wir darauf, dass es sich nicht wiederholt.« Sie hob ihr Glas.
»Glauben Sie mir, meinen Mann überstehe ich auch«, entgegnete Sarah in einem Ton, der Carmen stutzen ließ.
»Da wir uns ja zwangsläufig immer wieder über den Weg laufen werden: Ich heiße Carmen.«
Nicht erst seit heute fanden sich die Frauen sympathisch. Vielleicht, weil sie in ihrer Art so unterschiedlich waren und trotzdem einiges gemeinsam hatten. Und weil sie bereits so viel voneinander wussten. Die Ärztin aus der Krankenakte und Sarah von Carmens Erzählungen. Carmen, zehn Jahre älter, nicht ganz so groß,
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