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Das Erwachen

Das Erwachen

Titel: Das Erwachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edwin Klein
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mich auch tatsächlich getäuscht«, meinte Carmen. »Sie war auch weit weg und ist in einem Kaufhaus verschwunden. Aber irgendetwas hat mich an Mary erinnert.«
    Vom Parkplatz gingen sie zu einer Gruppe von Ferienhäusern, die um diese frühe Jahreszeit noch nicht belegt waren. Sarah erzählte Carmen, dass Henry meinte, sie sei schwanger. Weil man in einer Arztpraxis ein Häkchen an die falsche Stelle gemacht hatte. Während sie an den Ferienhäusern vorbeispazierten, klärte sie die Ärztin auf über den gewaltsamen Tod ihres Vaters.
    »Nun wird mir einiges verständlich.« Carmen schaute sie ernst an. »Du machst dir Vorwürfe, weil du nicht weißt, aus welchem Grund dein Vater es getan hat. Das setzt dir so zu.«
    »Ja, genau. Es ist die Ungewissheit, an seinem Tod mitschuldig zu sein.«
    »Hat er dich nicht geliebt?«
    »Doch, sehr.«
    »Und du ihn auch?«
    Sarah nickte.
    »Würde sich ein Vater wegen der Liebe zu seiner Tochter umbringen? Auf gar keinen Fall«, gab sich Carmen selbst die Antwort. »Erst recht nicht, wo er doch auch von deiner Liebe wusste. Folglich muss es einen anderen Hintergrund geben.«
    Sarah beruhigte diese Vorstellung nicht sonderlich. Sie kam nicht gegen all das an, was sie sich in den vergangenen Jahren eingeredet hatte. Und ihre Vorwürfe hatten genügend Zeit gehabt, sich in ihrem Kopf einzugraben.
    »Es ist schon seltsam«, meinte Carmen. »Da bringen sich Henrys Eltern um, sie wollen ihren Namen rein halten, und dein Vater stirbt auch eines gewaltsamen Todes. Aber er hatte doch einen guten Ruf. Oder ging sein Geschäft vielleicht nicht gut?«
    »Nein, keineswegs. Er hat mir schon einiges hinterlassen.«
    Auf einer Kuppe blieben sie stehen und schauten hinunter auf Saarburg. Halb rechts die Burg mit der Fahne auf der Spitze, weiter dahinter die katholische Kirche, gleich in der Nähe die Altstadt mit dem Wasserfall, und auf der Saar das erste Fahrgastschiff für die gerade beginnende Saison, die Marie-Astrid aus Luxemburg.
    »Schon erstaunlich, was sich in einer so kleinen, romantischen Stadt alles abspielen kann.«
    »Mein Vater lebte in Trier.«
    »Was dir widerfahren ist, genügt doch auch, oder?«
    Carmen erkundigte sich, ob Sarah über Ostern verreise. Als Sarah verneinte, informierte sie die Ärztin, dass sie für zwei Wochen nach Florida fliege.
    »Dort werde ich wohl viele Bekannte treffen. Wenn du dich umhörst, dann fliegt jeder nach Florida. Und besonders ältere Herrschaften, die eine knackige Vierzigerin wie mich gerne anmachen möchten. Rentnergrapschen nennt man das, glaube ich. Aber so billig komme ich nie mehr nach Florida. Achthundert für zwei Wochen, alles inklusive. Sogar einen Leihwagen habe ich. Zu Hause bleiben wäre teurer.«
    Von ihrem Aussichtspunkt wanderten sie einen Höhenweg entlang. Unter ihnen die Weinberge, hinter ihnen der Ferienpark, und vor ihnen ein Wald, auf den sie zusteuerten.
    »Unser größtes Problem ist, dass wir Frauen alles perfekt machen wollen. Diese Haltung wird permanent von den Männern an uns herangetragen. Und doof wie wir sind, versuchen wir auch, sie zu erfüllen. Perfekte Hausfrau und Gastgeberin mit perfekten Kochkenntnissen, die in der Lage ist, ein Sechsgangmenü aus dem Ärmel zu schütteln. Und dazu perfekt frisiert und gekleidet am Tisch sitzt, normal atmet, schöne, geistreiche Konversation betreibt und allen einen guten Appetit wünscht. Perfekte Mutter, die ihre Kinder zu braven und lieben und guten Staatsbürgern erzieht. Perfekte Ehefrau, die alle Tricks des horizontalen Gewerbes kennt und damit ihrem Mann genau das gibt, was er sich im Geheimen wünscht. Und dieser verdammte Perfektionismus macht uns kaputt. Willst du dich in einem Punkt ausklinken, hältst zum Beispiel nichts von Hausarbeit oder anderen typischen fraulichen Pflichten, dann hast du kurioserweise nicht die Männer gegen dich, sondern deine Geschlechtsgenossinnen. Und ich höre sie reden:›‚Noch nicht einmal kochen kann sie. Dann wird sie auch keine gute Mutter sei‹’. So wie ein kastrierter Kater in der Rangfolge weiter hinten steht und ausgeschlossen wird, kommst du dir dann auch kastriert vor. Und wenn du Erfolg im Beruf hast, dann nicht wegen deiner Fähigkeiten, sondern weil du Ehe und Familie und alles andere vernachlässigst.«
    Sarah hatte zugehört und immer wieder bestätigend genickt, obwohl sie einer anderen Kategorie zuzuordnen war. Henry hatte einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert, man unterstellte ihm ein großes Vermögen,

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