Das Erwachen
Vorstellung, Henry zu töten, falls sie die Gelegenheit dazu haben sollte, überhaupt nicht mehr abwegig vor. Was hatte sie in der Küche getan? Ihm ein Messer in den Arm gerammt. Hätte er näher gestanden, sie hätte es ihm in den Bauch gestoßen.
Allmählich wurde ihr Kopf klarer, die Gedanken präziser. Und je klarer sie denken konnte, desto unbegreiflicher war die Erkenntnis für sie, wie schrecklich sich Henry verändert hatte. Ihr Ehemann, den sie einmal geliebt, für den sie alles getan hätte. Wie kann man sich nur so in einem Menschen täuschen, fragte sie sich. Was muss Henry erlebt haben, um so zu werden?
Henry, der perfekte Schauspieler. Jahrelang hatte er die Maskerade aufrechterhalten, seiner Umwelt etwas vorgegaukelt. Und nun? Ging es wirklich nur darum, dass er Kinder haben wollte? Oder war er geschockt von ihrem Vorsatz, sich von ihm scheiden zu lassen? Eine Niederlage in der Öffentlichkeit?
Provoziert durch ihre Überlegungen und Fragen, sah sie mit einem Mal längst vergangene Begebenheiten und Situationen mit anderen Augen. Henry war vielleicht doch nicht so selbstbewusst, wie er sich gab. Da er jedoch als angesehener Geschäftsmann oft um seine Meinung gefragt wurde und stets Gehör fand, wenn er sich zu einem Thema äußerte, brauchte er dies nur entsprechend laut und überzeugend zu tun, schon hatte er Position bezogen und gewonnen. Elegant hatte er seinen Gegenspielern den Wind aus den Segeln genommen. Henry trat möglicherweise nur so arrogant und persönlichkeitsstark auf, um von seiner inneren Unsicherheit abzulenken. Und Henry versteckte sich. Hinter der übertriebenen Ordnung versteckte er sich. Sie war sein Gerüst, seine Stütze für dominantes Auftreten und Eloquenz. Und da in Henrys Leben alles an seinem Platz war – sogar sie, Sarah, seine Ehefrau, war an dem gewohnten Platz –, alles seinen gewohnten Gang und Ablauf nahm, fand Henry in der Ordnung den Halt, den er benötigte. Die Ordnung war seine Selbstsicherheit. Und all die Jahre hatte sie das nicht bemerkt, waren sie und die anderen von Henry geblendet worden.
Sarah fühlte sich mit einem Mal überlegen, weil sie glaubte, Henry durchschaut zu haben. Und wenn er innerlich gehemmt und zerrissen ist, spann sie ihren Gedanken weiter, dann hat er auch Angst. Denn Angst versteckt sich meist hinter der Fassade einer vorgetäuschten Selbstsicherheit. Und wenn man immer wieder kontrollierte, ob auch alle Türen verschlossen waren.
Henrys Eltern hatte sie nur zu ihrer Jugendzeit kennengelernt. Später, als sie befreundet waren und kurz vor der Ehe standen, da lebten sie bereits nicht mehr. War Henry durch ihre Erziehung so geworden? Hatte man aus ihm den harten Geschäftsmann geformt, der sich im täglichen Leben durchsetzen musste?
Sarah kam nicht dazu, weiter über Henrys Psyche nachzudenken. Die Tür schwang auf, Henry stand im Raum und schaute auf sie herab.
»Hier, friss.«
Er stellte wieder ein Tablett auf den Boden, mit einem Glas Milch und etwas kaltem Braten.
»Von heute Mittag. Mary hat ausgezeichnet gekocht.«
»Mary war im Haus?«
»Mary ist jeden Tag im Haus«, verbesserte er sie. »In vier Tagen ist Ostern.«
»Hat sie nach mir gefragt?«
Henry schüttelte den Kopf. »Warum sollte sie? Du bist ja auch sonst nicht zu Hause.«
Die Tür fiel ins Schloss. Nachdenklich starrte Sarah vor sich hin. Henry war so sonderbar ruhig gewesen. Unnatürlich ruhig. Als stünde er unter Medikamenten.
»Ich muss aufs Klo«, schrie sie hinter ihm her und wusste doch, dass er sie nicht mehr hören würde.
Und so machte sich Sarah, eingesperrt mitten in einer deutschen Kleinstadt, über das Essen her. Und mit jedem Bissen fühlte sie, wie ihre Kraft langsam zurückkehrte. Die Schmerzen in ihrem Körper waren nun erträglich, die Wangen schienen nicht mehr so geschwollen zu sein, und sie würde nicht aufgeben. Niemals.
Wieder wachte sie auf und lag in der Badewanne. Zuerst dachte Sarah, sie träume. Aber der Wasserstrahl war so heiß, dass es schmerzte. In Träumen schmerzt heißes Wasser nicht.
Wie vor einer geraumen Weile, Sarah wusste nicht, war es vorhin, gestern oder vor einem Monat, trug Henry sie ins Schlafzimmer.
Aber bevor er sich über sie hermachte, las er ihr ein Schreiben vor, das sie zu unterschreiben hatte. Sarah unterschrieb einfach, obwohl sie nichts verstanden hatte.
Die Prozedur begann erneut. Die entwürdigende, ekelhafte, abstoßende Prozedur der Vergewaltigung durch ihren gesetzlich angetrauten
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