Das Erwachen
Lippe drückte gegen die Zähne des Unterkiefers. Und wenn sie nicht aufpasste, dann biss sie sich auf die Verdickung.
»Ich mache dir auch keine Schwierigkeiten. Eine Abfindung brauchst du mir nicht zu zahlen und auch keinen Unterhalt.
Ist das nicht eine gute Basis, um uns zu trennen? Gütlich zu trennen?« Hoffnungsfroh schaute sie ihn an.
Henry lachte irr. »Gütlich trennen«, äffte er sie nach. »Keine Abfindung. Keinen Unterhalt. Ha, ha, ha.«
»Ich komme allein zurecht. Außerdem hat mir mein Vater einiges vererbt.«
Erneut lachte Henry auf eine bisher noch nie von Sarah an ihm bemerkte Art. Es klang schrill und unnatürlich. Und Sarah, die sich nun getraute, ihn anzuschauen, glaubte in seinen Augen einen tückischen, verschlagenen Blick zu erkennen. Ein Blick, der ihr fremd war.
»Außerdem haben wir keine Kinder, das vereinfacht alles.«
Mit sich überschlagender Stimme schrie Henry: »Genau das ist es. Alle Frauen kriegen Kinder, nur du nicht. Du bist überhaupt keine richtige Frau. Dir fehlt das Wichtigste. Und wofür plage ich mich? Ich möchte einen Nachfolger haben, der mein Werk fortsetzt.«
Langsam und stetig kroch eine bisher unbekannte Art der Angst in Sarah hoch. Nicht diejenige, die sie empfand, wenn er sie schlug, oder als er sie vor Tagen vergewaltigte. Es war eine andere Angst, denn diese neue Seite von Henrys Persönlichkeit kannte sie noch nicht. Und es war eine schlimme, eine dunkle, unberechenbare Seite.
»Gib zu, du willst mir einfach keine Kinder schenken. Du willst mich nicht glücklich machen. Hast du das verhindert?«
Und als Sarah nicht antwortete, sprang er zu ihr und riss sie an den Haaren. »Hast du das verhindert? Hast du die Pille genommen ohne mein Einverständnis? Hast du abtreiben lassen? Sag schon, wo hast du abtreiben lassen? Etwa in Belgien?«
»Du tust mir weh, Henry.«
»Du hast mit auch oft wehgetan, Sarah. Und mich vor anderen bloßgestellt. Mich lächerlich gemacht.« Er ließ sie los, lehnte sich gegen die Wand und verschränkte die Arme vor der Brust. Wie er da so stand, sah er aus wie ein mächtiger Holzfäller in einem Jack London Film.
Sarah konnte sich nicht daran erinnern, wann sie ihm weh getan haben sollte und schwieg. Alles durfte sie tun, nur nicht Henry reizen. Aber das war leicht gesagt. Zum einen wegen ihres flinken Mundwerkes, und zum anderen, weil sie glaubte, sie kenne ihn und könne ihn von einer Trennung überzeugen.
»Ich habe keine Pille genommen und auch nicht abtreiben lassen, Henry«, sprach sie in einem versöhnlichen Ton. »Ich wollte genauso Kinder haben wie du. Erinnerst du dich denn nicht mehr, wie wir uns auf das erste gefreut haben, von dem wir später erfuhren, es hätte ein Junge sein sollen? Wir hatten doch schon begonnen, Möbel für das Zimmer auszusuchen und Strampler und Spielzeug zu kaufen.«
»Oh ja, ich erinnere mich.« Henry hakte die Daumen hinter den Gürtel. »Und noch mehr erinnere ich mich an die vergangene Woche. Als ich nach Hause kam, voller Freude. Und du mich ausgelacht hast …«
»Ich habe dich nicht ausgelacht«, verbesserte Sarah und wusste, sie log. Natürlich hatte sie ihn ausgelacht.
»… und gesagt hast, von mir möchtest du keine Kinder haben. Nie im Leben. Lieber würdest du dich umbringen. Erinnerst du dich?«
Sarah senkte den Kopf und Henry fasste dies als Eingeständnis auf.
»Von jedem anderen Wichser würdest du ein Kind wollen, nur nicht von mir. Von solchen schmutzigen Typen wie diesem komischen Papagallo in Südafrika. Diese Kaffer ziehst du mir vor. Eine schlimmere Beleidigung für mich gibt es nicht.«
Henry hatte sich mit den eigenen, verschrobenen Argumenten selbst den Startschuss gegeben, kam zu ihr, zog sie hoch und schleifte sie in die Küche. Sarah ahnte, wo er sie hinbringen wollte und wehrte sich. Mit aller Kraft stemmte sie sich gegen den Küchenschrank. Aber Henry zerrte sie weiter zum Abstellraum. Sarah schnappte sich aus dem Holzblock ein Messer und schrie wie von Sinnen: »Wenn du mich jetzt nicht loslässt, dann steche ich zu.«
Henry ließ sie auch tatsächlich los und schaute sie amüsiert an. »Mit so einem Messerchen willst du auf mich losgehen? Gegen einen von Rönstedt? Dass ich nicht lache.«
Er wollte sie am Oberarm anfassen, als sie zustieß. Henry konnte noch etwas zurückzucken, aber das Messer riss den Stoff seines Hemdes auf und drang in den Unterarm. Sofort begann er zu bluten.
Fassungslos starrte Henry sie an. Und dann holte er aus und schlug
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