Das Erwachen
In dieser Beziehung, was das Fotografieren betraf, schienen die Koreaner den Japanern sehr ähnlich zu sein, überlegte Henry.
Auch der Biergarten begeisterte sie ungemein, so wie der Wasserfall und die Altstadt. Er sei schöner als alle, die man in München gesehen habe, sagte einer seiner Besucher. Und auf Henrys Frage nach dem Warum antwortete er lachend und zeigte dabei ungeniert eine Zahnlücke: dort gäbe es keine Burg.
Die Zahnlücke irritierte Henry enorm, denn immerhin hatte er hier den Europachef des Shogun-Konzerns vor sich. Nie und nimmer würde er auch nur ansatzweise den Mund aufmachen, falls er, wenn auch nur vorübergehend, eine Zahnlücke hätte.
So offen lachen wie die Koreaner würde er auch nicht, und ohne Krawatte und Jackett zu Geschäftsfreunden gehen schon gar nicht. Überhaupt sah er nur sehr wenige Gemeinsamkeiten zwischen dem Besuch aus Fernost und sich selbst. Die einzige, sie verbindende, war das Geld und der zu erwartende Gewinn.
Henry war erleichtert, als er die Koreaner spät am Abend im Hotel einquartierte und nach Hause gehen konnte. Am kommenden Tag würden sie sehr zeitig nach Luxemburg fahren. Vielleicht, so meinten sie, würden sie auch noch mal in seinem Autohaus vorbeikommen.
Henrys Nervenkostüm war nicht das stabilste. Zunehmend merkte er, dass ihm Sarah viele Dinge des Alltags abgenommen hatte. Nun musste er Mary sagen, was sie einzukaufen und zu kochen hatte, ob der Gärtner zuerst umgraben oder die Rosen zurückschneiden solle, welchen Anzug er gebürstet und welches Hemd er gebügelt haben möchte.
Sein Personal bekam die Gereiztheit auch zu spüren. Henrys Ton wurde härter, seine Toleranz, bisher war sie schon nicht allzu ausgeprägt gewesen, noch geringer, bei jeder sich bietenden Gelegenheit stauchte er einen Mitarbeiter zusammen. Und als er gerade lautstark eine Tirade gegen einen Verkäufer losließ, obwohl sich Kunden im Verkaufsraum befanden, und diesem mit der Kündigung drohte, nur weil er einen Termin versäumt hatte, kam eine Frau auf ihn zu, die er nicht in allzu guter Erinnerung hatte.
»Carmen Sigallas«, stellte sie sich vor. Sie war braun gebrannt und sah erholt aus. Ihrer luftigen Kleidung nach hatte sie Urlaub im Süden gemacht.
»Ich weiß. Die Ärztin. Was wollen sie denn hier? Meine Frau ist nicht da.« Henry wollte sich abwenden.
»Danke für den Kaffee. Und dass Sie mir einen Platz anbieten.«
Widerwillig führte Henry die Ärztin zu einer Sitzgruppe, die, da aus Leder und sehr komfortabel und sehr wuchtig, wohl auch den Umzug in das neue Gebäude mitmachen würde.
»Was wollen Sie«, fragte er nicht mehr ganz so aggressiv wie vorhin, nachdem der Kaffee vor ihnen stand.
»Mich nach Sarah erkundigen.«
»Sie ist verschwunden.«
»Das habe ich bereits auf der Polizei gehört. Und im Radio. Deswegen bin ich hier.«
»Was, Sie waren bei der Polizei?«, entrüstete sich Henry. »Wer gibt Ihnen das Recht …«
»Das nehme ich mir. Nach allem, was Sarah mir über Sie erzählt hat, und über ihre Ehe«, fügte sie bedeutungsvoll hinzu, »nehme ich mir das Recht, nicht nur zur Polizei zu gehen sondern auch zu Anwalt und Notar. Und ihre Freunde aufzusuchen, falls es erforderlich sein sollte.«
Henry hätte die Ärztin am liebsten genauso behandelt wie Sarah. Aber es gab Zeugen, und die Ärztin war ihm mit ihrem Detailwissen sehr suspekt. Woher konnte sie von dem Anwalt und dem Notar wissen? Nur von Sarah. Und wenn sie das schon wusste, dann auch noch mehr, kombinierte Henry und zwang sich zu einem freundlicheren Verhalten.
Carmen bemerkte den Umschwung und lächelte. Sie betrachtete sich Henry, der wirklich ungemein gut und männlich und verlockend aussah, ungeniert, worauf dieser auf seinem Sitz die richtige Position suchte. Zuerst schlug er die Beine übereinander, dann zog er ein Knie an und umschloss es mit beiden Händen. Zum Schluss verschränkte er sie Arme vor der Brust und schaute seitlich mit einem »in die Ferne Blick« aus dem Fenster.
»Womit kann ich Ihnen helfen?«, fragte er geschäftsmäßig, ohne seinen Gast anzuschauen.
»Sie haben eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Hat sich Sarah inzwischen bei Ihnen gemeldet?«
»Wenn Sie bei der Polizei waren, dann wissen Sie das doch.«
»Ich habe Sie gefragt, Herr von Rönstedt. Man sagt nicht immer alles der Polizei.«
Henry schüttelte den Kopf. »Nein, keine Nachricht von ihr, nichts.«
»Ist zwischen ihnen etwas vorgefallen, wovon die Polizei keine Ahnung hat?«
»Werden
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