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Das Erwachen

Das Erwachen

Titel: Das Erwachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edwin Klein
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eilte so schnell, wie es ihre zu weiten Gesundheitssandalen mit dem breiten Fußbett zuließen, in die Diele, öffnete ihre Handtasche und kam mit einem Zettel zurück.
    »Herr von Rönstedt, hier auf diesem Zettel steht alles drauf«, begann sie sich zu verteidigen.
    Henry hörte nicht richtig zu. Bei Personal hörte er nie zu.
    »Vierzig Punkte habe ich hier aufgeschrieben, mit der Schreibmaschine, fein säuberlich aufgeschrieben. Vierzig Punkte.«
    Mary erwartete, dass Henry fragte, welche Punkte das denn seien und warum sie sie aufgeschrieben habe.
    »Und wenn der Zettel voll ist, nehme ich einen anderen. Denn ich habe das Original kopiert.«
    »Wovon reden Sie eigentlich«, fuhr Henry sie an.
    »Von meiner Aufgabe, alles in Ordnung zu halten.« Nervös rückte Mary ihre Nickelbrille mit den kleinen Gläsern zurecht.
    »Und was hat das mit dem Zettel zu tun?«
    »Hier, Herr von Rönstedt. Teppich exakt in der Mitte des Zimmers. Das habe ich gestern gemacht. Sehen Sie das Häkchen?«
    Erstaunt betrachtete Henry sich den Zettel, auf dem am linken Rand die vierzig Punkte aufgelistet waren und auf der oberen Leiste die einzelnen Tage, fortlaufend mit genauer Datumsangabe. Daneben waren Kästchen, in die Mary für diesen Tag eine bestimmte Uhrzeit eingetragen hatte.
    »Teppich gestern um zehn nach zwei. Tisch um elf nach zwei. Das ganze Wohnzimmer war um zwanzig nach zwei fertig. Sehen Sie, Herr von Rönstedt?«
    »Und der Boden? Die Streifen auf dem Boden?«
    Mary schaute zuunterst auf dem Blatt nach. »Wohnzimmer gesaugt, feucht aufgewischt und Boden mit Holzpolitur behandelt exakt um vier Uhr.
    Vor soviel Beflissenheit und Akribie hatte Henry Respekt. Das sagte er auch deutlich, und Mary würde den heutigen Tag wohl auch ankreuzen und mit genauer Uhrzeit versehen, denn heute hatte sie zum ersten Mal von ihrem Arbeitgeber ein Kompliment gehört. Und sie würde auch seinem Wunsch entsprechen, ihm jede Woche eine Kopie ihrer Tätigkeiten auf den Wohnzimmertisch zu legen.
    Es gibt immer Kriege auf der Welt, mindestens drei oder vier toben zur gleichen Zeit. Flugzeuge stürzen ab, Vulkane brechen aus, Erdbeben zerstören ganze Landstriche, die Fluten reißender Ströme verschlucken sie gleichwohl. Und manch ein Staat droht der ganzen Welt mit einer Atombombe oder mit neu entwickeltem tödlichem Gas.
    Aber all das interessierte Henry nicht so sehr wie diese Ordnungswidrigkeiten. Gestern hatte ihm Mary plausibel erklärt, all ihre Pflichten erfüllt zu haben. Heute öffnete er den Schrank in seinem Schlafzimmer und was entdeckte er? Die Anzüge waren nicht in der richtigen Reihenfolge. Achtundzwanzig Anzüge hatte er, damit er wenigstens, wie er einmal scherzte, an jedem Tag im Februar einen anderen anziehen könne, und sie waren stets säuberlich farblich geordnet von hell nach dunkel. Aber da hing ein Dunkelblauer schon an dritter Stelle neben einem hellgrauen. Und der hellste leichte Sommeranzug ganz rechts noch hinter dem Schwarzen.
    Mary, auf diesen Umstand hin zur Rede gestellt, brach beinahe in Tränen aus. Sie schwor, nie und nimmer so gehandelt zu haben.
    Henry ließ es dabei, vielleicht auch deswegen, weil ihn ihre gewissenhafte, säuberliche Auflistung aller Tätigkeiten so sehr gefallen hatte, und begann zu überlegen. Wer war für die Unordnung verantwortlich? Er selbst schied aus, also blieb nur Mary übrig. Die beiden Hunde gingen nicht an seinen Schrank.
    Ich werde wohl besser aufpassen müssen, sagte er sich und gemeint war Mary. Er testete sie auch in den kommenden Tagen, konnte ihr allerdings nichts nachweisen. Dafür jedoch verharrte er gegen Mittag etliche Minuten vor seinem Geschäft im Auto, nachdem er gerade eingestiegen war. Einiges störte ihn ungemein. Sich zur Ruhe zwingend, überlegte er, ob es eventuell nicht doch sein Verschulden sein könnte. Das Autotelefon lag auf dem Beifahrersitz und steckte nicht in der Halterung. Sein Geldspender für Parkuhren, fünfzig Cent- und Eurostücke, war leer. Noch nie in den vergangenen zehn Jahren war er leer gewesen. Heute jedoch war er es. Und seine Sonnenbrille lag auf dem Armaturenbrett. Dazu auch noch mit den Gläsern nach unten. Mit acht Jahren hatte er zum letzten Mal eine Brille mit den Gläsern nach unten gelegt, und zwar die seines Vaters. Ein geschwollener Hintern und sieben Tage Hausarrest, das würde er nie im Leben vergessen!
    Aber eines wusste Henry in diesem Augenblick genau: Das konnte er Mary nicht in die Schuhe schieben. Sie hatte keinen

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