Das Erwachen
zumindest zwei ihrer Kollegen, die Lampen und Weiße Ware verkauften. Die jedoch gehörten nicht dem inneren Zirkel des SUV an, also hatten sie die Suppe allein auszulöffeln. Und das Parkhaus könnte ruhig noch näher an die Innenstadt rücken. Sie knobelten einen Standort aus, von dem sie alle drei am besten partizipieren konnten. Und genau diesen Vorschlag wollten sie als Verband dem Bürgermeister unterbreiten. Anlässlich eines Abendessens, zu dem sie ihn einladen würden. So wie all die Male zuvor, wenn sie sich seinen Beistand und den des Stadtrates sichern wollten.
Zufrieden über ihre überparteiliche Entscheidung im Sinne der Allgemeinheit, tranken sie einige Bier und einige Schnäpse. Bier und Schnaps trank Henry nur im Anschluss an die Sitzungen des SUV.
Angeheitert fuhr Henry nach Hause, Polizeikontrollen gab es nicht in Saarburg um diese Uhrzeit. Im Schlafzimmer wäre er beinahe vornüber gekippt, als er seine Schuhe auszog. Dann lag er im Bett und tadelte sich selbst: Henry, du hast deine Schuhe nicht in der Kammer abgestellt. Und dein Anzug liegt auf dem Boden. Und die Zähne geputzt hast du auch nicht. Du lässt dich gehen.
Für Fälle wie heute und auch sonst gab es neben Henrys Bett einen kleinen Kühlschrank mit mindestens zwei Flaschen Mineralwasser und zwei Gläsern. Das nur eine drin stand, und die war auch schon angebrochen, fiel ihm nicht auf. Als Henry in der Nacht Durst verspürte, trank er von dem Mineralwasser – ohne ein Glas zu benutzen. Aber das sah ja niemand.
Und dann kam dieser Traum. Henry fand sich in dem Weinkeller wieder, in den er Sarah eingesperrt hatte. Er saß auf dem Boden, das Licht war an, und er war nackt. Aber der Boden war nicht kalt. Henry saß auf einer Decke. Er erkannte in ihr diejenige, die er Sarah gegeben hatte.
Henry fühlte sich müde, unendlich müde. Nur unter Aufbietung aller Kraft konnte er die Augen offen halten. Und er benötigte diese Kraft auch, um sich zu erheben. Schwankend stand er im Raum. Als er sich über die Augen fahren wollte, bemerkte er, dass seine Hände gefesselt waren.
Henry schaute an sich herunter, sah seinen Penis und die Füße. Um seinen Penis war ein Schleifchen gebunden. Ein blaues Schleifchen.
Henry öffnete den Mund um zu schreien, brachte jedoch nur ein schwaches Krächzen hervor. Er ging tapsig bis zur Tür, die Beine wollten nicht richtig, und versuchte, sie zu öffnen. Vergeblich. Dann rüttelte er an ihr. Nichts rührte sich. Und im Abwenden glaubte er eine Frauenstimme zu hören: Blaue Strampler, blaues Schleifchen. Blaue Strampler, blaues Schleifchen. Henry legte den Kopf zur Seite um zu orten, woher diese Stimme kam. Er schaute hoch zur Decke, dort war außer einem Entlüftungsloch keine Öffnung.
Und wieder hörte er die Stimme: Geh bitte im Kreis. Geh bitte im Kreis. Und Henry, zuerst unschlüssig, ging im Kreis, in einem kleinen Kreis, wegen der Enge des Raumes, ohne sich zu fragen, welchen Sinn es machte. Und während er ging, versuchte er herauszufinden, ob er die Stimme schon einmal gehört hatte. Sie kam ihm vor wie eine aus dem Fernsehen. Engel sprechen dort immer so leise und freundlich zu ihren Schutzbefohlenen. Hatte er etwa auch einen Engel? Aber an einen solchen Humbug glaubte er nicht.
Setz dich auf den Boden, setz dich auf den Boden.
Und Henry setzte sich.
Erzähl mir vom Kindergarten. Komm, erzähle es mir.
Henry wollte zuerst nicht. Er machte doch nicht einfach das, was ihm die Stimme befahl. Noch nie hatte er sich was befehlen lassen. Zumindest nicht mehr in den vergangenen fünf oder zehn Jahren. Mit dieser Einstellung gelang es ihm auch, die Stimme zu ignorieren. Und dann hörte er sie plötzlich nicht mehr. Es war ruhig, sterbensruhig und still in dem kleinen Raum. Und Henry war allein. Aber er wollte nicht allein sein. Er brauchte Gesellschaft. Und schließlich begann Henry zu erzählen. »Es war schön dort«, sprach er. Seine eigene Stimme hatte einen anderen Klang als sonst. Und er redete langsamer, viel langsamer. »Wir spielten den ganzen Vormittag, malten, rutschten, tobten im Sandkasten und schaukelten. Und ich nahm mir jeden Morgen von zu Hause ein Brötchen und etwas zu trinken mit. Kalten Tee. Immer wollten die anderen von meinem Tee trinken. Aber das durften nur diejenigen, die mir ein Stück Schokolade gaben. Und um mehr Schokolade zu bekommen, nahm ich ein zweites Päckchen Tee mit. Dabei ist Schokolade teurer als Tee, aber das bemerkte niemand. Was meine Mami dazu gesagt
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