Das Erwachen
Hof sie kostenlos mit Speis und Trank. Das Leben war schön.
Was Slew anbetraf, so hielt er seine Tür verschlossen und schlief ohnehin nicht dort, wo die Leute ihn vermuteten. Er war der Wollust und des Essens überdrüssig.
»Meister«, fragte ein Diener, »können wir etwas für Sie tun?«
Er stierte ins Leere, mit den Gedanken woanders.
»Meister ...?«
»Sagt meinen Brüdern, sie sollen zu mir kommen.«
Harald und Bjarne kamen.
»Ich habe einen Auftrag für euch.«
Er schickte sie in die Stadt, in der Machthild lebte und in die sie inzwischen zurückgekehrt sein musste.
»Sagt ihr, dass ich krank bin. Holt sie nach Bochum.«
»Wird gemacht.«
Slew wusste ganz genau, was der Stein des Frühlings war und worauf er möglicherweise verzichtete, wenn er ihn Sinistral aushändigte.
Er kannte die Geschichte Beornamunds und wusste, wie und warum die Steine entstanden waren. Wie andere Jungen hatte auch erdavon geträumt, die Steine zu finden, wieder zusammenzubringen und zu erleben, wie die einst vom großen CraftLord erschaffene Kristallkugel wieder entstand.
Aber dieser Traum war gestorben, als er sich in der Bibliothek von Brum auf die Reise durch eine gestickte Darstellung der Jahreszeiten begeben hatte, deren Schatten an seinen eigenen nagten und sie noch quälender machten.
Davor waren die Steine nur Geschichten, Legenden und Mythen gewesen. Nun waren sie Wirklichkeit geworden, und er hatte eigenhändig einen Stein gestohlen, hatte ihn jemandem weggenommen, der ihn brauchte. Einem Mädchen, einer Frau, einer alten Dame, einem Hutzelweib ... Ihr unglückliches Leben war sein eigenes geworden, ebenso ihre freudlosen Jahreszeiten, ihre Schwermut. Durch den Betrug an ihr hatte er sich selbst betrogen.
Als er sich an der Reling von Borkum Riffs Kutter in die dunkle, tosende See übergeben hatte, hatte er versucht, die Galle ihrer Traurigkeit, wenn es denn nur Traurigkeit war, auszuspeien, und gehofft, diesem Zustand ein Ende zu bereiten. Das wusste er.
Wieder in Bochum, spürte er die begehrlichen Blicke der Leute. Sie wollten seine Hand berühren, wollten ihn verschlingen, was ihm nur das Gefühl gab, einsam zu sein und versagt zu haben. Die Übelkeit war fort, aber die tiefe Traurigkeit, die er bei ihr gespürt hatte, war noch in ihm. Die Erinnerung an sie wühlte ihn auf, sein Verstand versuchte zu begreifen, sein Zorn wuchs.
Nichts war mehr wie zuvor, alles erschien ihm grau. Es gab kein Licht in dem, was er sah.
Gleichwohl umgab ihn, wie Kaiser Slaeke Sinistral, etwas Geheimnisvolles.
Wenn er einen Raum betrat, wandten sich Köpfe. Wenn er aufstand und ihn wieder verließ, stockten die Gespräche und verstummten, Blicke folgten ihm voller Neugier und manchmal voller Sehnsucht, wie in der Hoffnung, durch den bloßen Akt des Sehens könnte etwas von seinem Charisma am Betrachter haftenbleiben.
Er war nicht nur groß und von edler Gestalt. Wie der Kaiser bewegte er sich mit natürlicher Ungezwungenheit. Doch ihm fehlte der Esprit des Kaisers und somit die Fähigkeit, Bedrohlichkeit hinter Charme zu verstecken.
Stattdessen hatte Slew etwas Wildes, Bedrohliches, das Slaeke Sinistral nicht mehr besaß.
Und so wandten sich die Köpfe, als er, vom Kaiser bestellt, in die große Halle kam.
»Tritt näher, Slew«, sagte Sinistral.
Slew trat näher.
»Gib ihn mir.«
Slew gab ihm den Beutel.
»Er befindet sich darin, Herr, aber ... nehmen Sie sich in Acht, er drückt aufs Gemüt.«
»Komm noch näher.« Sinistral musterte ihn. »Du siehst erschöpft aus, irgendwie ausgehöhlt. Ich schließe daraus, dass du ungehorsam gewesen bist und dir den Stein angesehen hast.«
»Ich konnte nicht anders, als ich ihn nahm ...«
»Erzähl mir, was sich zugetragen hat. Wir können uns auf eine tiefere Ebene zurückziehen, dort sind wir ungestört.«
Panische Angst huschte durch Slews Blick. »Ich lasse mir lieber die Sommersonne ins Gesicht scheinen. Ich habe zu viel Dunkelheit erfahren, Herr, als ich den Stein für Sie geholt habe. Ich ziehe das Licht hier oben vor.«
»Dann erzähl mir hier davon – aber sprich leise, denn ich möchte nicht den Saal räumen lassen müssen. Und warte, deine Mutter wird es auch hören wollen.«
Wieder ein Schatten auf Slews Gesicht. »Herr, mir wäre es lieber, ich könnte die Geschichte Ihnen allein erzählen.«
Sinistral packte ihn am Arm und sagte mit verhaltenem Zorn: »Du hast auf der Rückreise getrödelt, du hast mich warten lassen. Leetha war krank vor Sorge
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