Das Erwachen
näher, und die Frau lachte.
»Miststück«, rief sie. »Morten wird dich beißen, und so beißen, dass es wehtut.«
Judith nahm den Hut ab und ließ ihr Haar im Nachtwind flattern.
Sie knöpfte ihre Jacke auf, damit sie besser treten konnte.
Sie leckte sich genüsslich die Lippen.
Dann schoss der Hund zwischen zwei Steinen hervor, und sie stürzte so schnell auf ihn los, dass Gras und Torf hinter ihr aufwirbelten wie unter den Hufen eines galoppierenden Pferdes.
»Bastard«, rief sie, und auch diesmal wusste sie nicht, woher sie das Wort kannte. Sie versetzte dem Hund einen Tritt gegen die Schnauze. Dann einen zweiten und einen dritten, die ihn aus dem Henge trieben. Und dann zur Sicherheit noch einen gegen die Brust.
Er wich jaulend zurück. Auch die anderen Hunde wichen zurück, gegen den Willen ihrer Reiter.
»Hund.« Sie kniete sich hin und streichelte ihm die blutende Schnauze mit den scharfen, gefährlichen Zähnen. »Ich fühle deinen Schmerz, denn er ist auch meiner.«
Der Hund neigte den Kopf, Blut tropfte im Dunkeln, er winselte. »Hör auf damit!«, befahl sie ihm. »Du darfst brüllen, schreien, heulen, bellen oder was immer du tust, aber niemals winseln.«
Der Hund richtete sich auf, trat an ihre linke Seite und heulte.
»Ja.« Sie legte ihm die Hand in den Nacken und zog den Schmerz aus ihm heraus. »So ist es gut ...«
Die Reiter sahen sie verwundert an.
»Wer bist du, Mädchen?«, fragte ihr Anführer.
»Nein, wer seid ihr ?«, fragte sie zurück.
»Wir sind die Reivers, und du hast keine Angst vor uns und unseren Hunden.«
»Warum sollte ich? Ich bin die Schildmaid, und so bin ich nun mal. Ich habe keine Angst, ich habe Schmerzen, fühle eure und frage mich, wer ich bin.«
»Du bist unsere Königin«, sagten sie.
»Ja«, flüsterte Judith in der Dunkelheit, umringt von Steinen, groß wie Menschen. »Ja, das bin ich, aber ich möchte es nicht sein. Ich möchte ... ich möchte ...«
Sie wandte sich von ihnen ab, kehrte in das Henge zurück, ging wieder im Kreis, rechts herum diesmal, denn sie wusste jetzt besser, was zu tun war. Vor Wonne schloss sie die Augen, erfuhr, was sie war, wünschte, sie wäre es nicht, und träumte von Augen, die einst in ihre geblickt hatten, die leicht gelächelt hatten, bevor er gesagt hatte: »Hallo, Judith, ich habe dich schon gekannt, bevor du geboren warst.«
»Wo ist Stort?«, fragte sie sich, ging ein letztes Mal im Kreis und kehrte in ihr anderes Ich zurück. »Und was ist er für mich?«
Diese Worte entsprangen aufrichtiger Neugier.
»Er ist mein Freund«, sagte sie sich. Das war tröstlich.
Sie wollte nach Hause, und sie war bereits so geübt in den Künsten der Schildmaid, dass der bloße Wunsch genügte, um von Welt zu Welt zu schlüpfen und in die der Menschen zurückzukehren, nach Hause. Es war wie Aufwachen.
Die Reivers waren fort, Judith war wieder ein Mensch, und Katherine fragte: »Wo bist du gewesen? Es ist schon dunkel. Wir haben uns ...«
»Sorgen gemacht. Ich weiß ...«
Sie wandte sich an Arthur. »Es gibt hier doch einen Steinkreis. Hinter dem Dorf. Oben unter den Bäumen, vierhundert Meter nordöstlich von Tod Laws, so heißt der Hügel da oben. Er ist ganz mit Bäumen bewachsen.«
»Du lernst schnell, Judith«, sagte Arthur.
»Ich muss, meine Zeit vergeht schneller als eure. Wenn ihr dort hinaufgeht, nehmt mich mit, denn ihr werdet Schutz brauchen. Jetzt ...«
»Judith, du musst etwas essen«, sagte Margaret.
»Ich muss jetzt schlafen«, erwiderte sie.
Ausnahmsweise einmal lächelte sie, und ihre Wangen glühten von der frischen Luft und der Bewegung.
»Sie ist schön«, sagte Margaret, nachdem Judith nach oben gegangen war.
»Jack wäre stolz auf sie«, erwiderte Katherine.
»Schutz?«, fragte Arthur. »Was hat sie damit gemeint?«
Im Obergeschoss des knarrenden alten Cottages zog Judith, die Schildmaid, die Vorhänge auf und stellte ein Glas mit einer brennenden Kerze ins Fenster, wie es Jack manchmal getan hatte, als sie noch klein gewesen war und geschrien hatte, da er geglaubt hatte, sie fürchte sich vor der Dunkelheit.
Sie kroch ins Bett, löschte das Licht, betrachtete die flackernde Kerze und weinte wegen der Schmerzen, die sie auf der Welt spürte – und vor Einsamkeit.
35
IN GESUNDHEIT UND KRANKHEIT
A uch nachdem er wieder festen Boden unter den Füßen hatte, erholte sich Slew nicht von der ungewohnten Übelkeit, die ihn auf Riffs Boot befallen hatte. Er fühlte sich elend, und er machte sich
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