Das Erwachen
wenige Sekunden leuchten, jedenfalls kam es ihnen so vor.
»Nach meiner Uhr«, sagte Blut, »waren es vierzehn Minuten, Herr.«
»Und ich fühle mich gut«, sagte Sinistral. »Sehr, sehr gut. Jetzt ...«
»Die Steine verändern das Zeitempfinden«, sagte Blut.
»Und die Erinnerung.«
An diesem Abend saß der Kaiser mit Slew an der windgeschützten Seite eines Müllbergs, auf dem ganz oben Möwen hockten und weiter unten im Dunkeln quiekende Ratten wuselten. Die wilden Hunde, die dort gewöhnlich umherstreunten, hätten ihnen gefährlich werden können, doch die Fyrd hatten das Gelände geräumt und standen diskret außer Sichtweite Wache.
Über ihnen die Sterne.
»Ich habe ein Mittel gegen deine Krankheit, Slew. Hier, in diesem Beutel.«
»Den Stein des Frühlings? Lieber nicht.«
»Nein, nein ... den Stein des Sommers. Nimm ihn, halte ihn, öffne den Beutel, setze dich ein, zwei Sekunden lang seinem Licht aus. Er wird dir zurückgeben, was dir der Frühling genommen hat.«
Dort in der Dunkelheit zwischen den Ratten ließ Witold Slew kurz den Sommer in seine Augen scheinen.
Sinistral beobachtete, wie die Sterne sich verschoben. Bald waren sie hier, bald dort, stoben auseinander, und der Mond glitt zur Seite.
Zwei Sekunden waren fast zwei Stunden, und Slew schien in dem verführerischen Licht des Steins Genesung zu finden.
»Danke, Herr, Ihr Schattenmeister ist wieder bei guter Gesundheit. Morgen vielleicht noch einmal?«
»Wir werden sehen«, sagte sein grausamer Herr.
So saßen sie unter den Sternen, die Erde und das Universum sehr schön, alles hell, und sie lachten miteinander, während Ratten über den Müllberg tobten.
»Noch einmal, Slew?«
Noch einmal.
Mond und Sterne verrutschten, und Slew schnupperte an dem Beutel, der Feuer enthielt, die jede Vorstellungskraft überstiegen. »In Englalond habe ich ein Mädchen gesehen, das zur Frau wurde, sich dann in eine alte Dame verwandelte und schließlich zu einem Hutzelweib verfiel. Sie hat mich traurig gemacht.«
»Wo?«
»In einer Stickerei.«
»Von ã Faroün?«
»Beinahe hätte es mich in ihre Geschichte hineingezogen.«
»Nicht nur beinahe, Witold Slew. Und jetzt sage mir bitte, dass du die Stickerei mitgebracht hast.«
»Ich ... nein, Herr, das habe ich nicht. Ich habe sie dortgelassen.«
Sinistral fuhr in die Höhe, fleischgewordener Zorn.
»Womöglich hast du die wertvollere Beute zurückgelassen, du Narr«, zischte er, und seine Stimme klang vorübergehend wieder alt und gebrochen. »Die Stickerei ist eine Karte, die den Weg zu allumfassenden Freuden weist – und zu den anderen Steinen.«
Slew runzelte die Stirn. Er hatte etwas in dem Tuch gespürt, aber nicht das.
Ekel befiel ihn.
»Sie haben nicht gesagt ...«
Die Stimmung des Kaisers schlug wieder um, und er lächelte. »Ich hatte ganz vergessen, dass es sie gibt, bis du sie erwähnt hast. Aber jetzt hast du ... nun ... es wird Zeit ... Wir werden sie uns holen wie den Stein. Sie allein wäre Grund genug, in meine Geburtsstadt einzumarschieren.«
Er lachte bei dem Gedanken.
Eine Stadt zerstören für ein Stück Stoff.
Blut, der im Hintergrund lauschte, zückte sein kleines Buch und notierte. Ein besticktes Tuch. Eine Karte, die möglicherweise den Weg zu den anderen Steinen wies. Freuden. Ein Hutzelweib. Bluts Augen funkelten, als auch er zu den Sternen blickte.
36
SCHWÜRE
C luckett war sogleich für Jack eingenommen, als sie seine Bekanntschaft machte.
Und schon kurze Zeit später gegen ihn eingenommen, als sie erfuhr, dass er ihren Mister Stort noch am selben Abend entführen wollte.
»Aber er hatte noch nicht einmal Zeit, sein gelehrtes Haupt auf das Kräuterkissen zu betten, das ich für ihn genäht habe«, protestierte sie. »Er braucht Ruhe und Erholung, wenn er seine Arbeit tun soll.«
»Die brauchen wir alle«, erwiderte Jack, der sie auf Anhieb richtig einschätzte, »mich eingeschlossen. Hören Sie, barmherzige Schwester Cluckett ...«
»Einfach nur Cluckett wäre mir lieber, Sir, aber ich höre.«
Sie sagte dies atemlos mit wogendem Busen, denn trotz Storts bevorstehender Abreise hatte sie das Gefühl, dass sie im Dienst an ihm und seinen vielen Freunden als Frau in einer Weise gefordert war wie nie, solange ihr Mann noch gelebt hatte.
»Dann also Cluckett. Ich bin müde. Mister Stort ist müde, und ich gedenke nicht, kostbare Zeit damit zu verschwenden, über die Feinheiten von Storts Kopfkissen zu sprechen. Noch habe ich die Kraft zu erörtern, ob er
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