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Das Erwachen

Das Erwachen

Titel: Das Erwachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Horwood
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schon in regelmäßigen Abständen.«
    Jack lachte. »Das ist der Wissenschaftler in ihm. Er braucht etwas zu tun.«
    »Mit deinem Gefühl liegst du meistens richtig, Jack. Lassen wir also alles so, wie es ist, und hoffen wir, dass Margaret aufhört, sich so große Sorgen zu machen.«
    »Weswegen?«
    »Wegen der gesetzlichen Meldepflicht«, antwortete Katherine. »Sie befürchtet, jemand aus dem Dorf könnte von Judith erfahren und Fragen stellen. Warten wir zumindest noch ein paar Tage ...«
    Sie nahm ihm Judith ab und legte sie sich an die Brust.
    »Autsch! Sie beißt. Das ist doch ...«
    Sie zog Judith sanft von ihrer Brust und befühlte ihr Zahnfleisch.
    »Sie bekommt einen Zahn!«
    »Unmöglich!«, sagte Jack.
    »Wirklich! Sieh doch!«
    Ihre Brustwarze blutete.
    »Sie ist ein Vampir«, sagte Jack.
    Vorsichtig legte Katherine sie wieder an.
    »Autsch!«
    Sie zog sie wieder weg, flüsterte ihr ein liebevolles »Nein!« ins Ohr und legte sie abermals an.
    Judith biss sie kein drittes Mal.
    »Wenn sie ein Vampir ist, lernt sie schnell, keiner zu sein«, sagte Katherine.
    In der Hoffnung, eine Ruhepause zu bekommen, kehrten sie zum Haus zurück.
    Sie bekamen sie, aber sie währte nicht lang.
    Eine halbe Stunde später schrie Judith wieder.

9
ERWACHEN
    V ierhundert Meilen östlich, jenseits der Nordsee und tief unter der Erdoberfläche, lag die Gestalt eines Sterblichen zusammengekauert in einem Zahnarztstuhl aus rostigem Eisen und verschimmeltem Leder aus dem achtzehnten Jahrhundert.
    Um sie herum in der schaurigen Dunkelheit war das Zubehör zu dem Stuhl: biegsame Schläuche, Handbohrer, ein ausziehbares Speibecken, eine Fußstütze aus Gusseisen, eine Tretkurbel zum Antreiben des Riemens, der die Räder in Drehung versetzte, die wiederum die Handbohrer antrieben, und Gegengewichte.
    Neben den Armen und Beinen der Gestalt, neben ihrer Brust und ihrem Kopf baumelten Ledergurte mit Schnallen lose am Stuhl herunter. Als wäre ihr irgendwann in der Vergangenheit auf dem Stuhl furchtbarer Zwang angetan worden. Als könnte das jederzeit wieder geschehen.
    Dieses museumsreife Ensemble stand mitten in einem von Fels umschlossenen Raum, der so groß war, dass eine gotische Kathedrale der Menschen darin Platz gefunden hätte.
    Es gab keinerlei Licht.
    Nur greifbare Finsternis.
    Wären Forscher bis an die Schwelle dieses vergessenen Ortes vorgestoßen und hätten die scharfen Strahlen ihrer Taschenlampen in das Dunkel gerichtet, so wären ihnen der Stuhl und die Gestalt darin gar nicht sofort aufgefallen.
    Zunächst wären sie damit beschäftigt gewesen, sich zu wundern. Denn zum einen fielen unablässig Tropfen eines unterirdischen Regens aus dem Dunkel der felsigen Hallendecke und erzeugten einen wabernden Dunst, der von kräftigen Luftzügen und plötzlichen Böen durcheinandergewirbelt wurde.
    Zum anderen standen überall auf dem unebenen Boden verstörendeObjekte verstreut, die sich wie Geister aus dem Dunst erhoben.
    Die Halle war von Menschenhand geschaffen und einst zur Trennung von Gestein und Kohle benutzt worden. Die Maschinen, die dabei zum Einsatz gekommen waren, hatte man bei der Stilllegung des Bergwerks hier zurückgelassen, zusammen mit einer Unmenge von Rädern, Kränen und Ketten, Bahngleisen, Kabeltauen, riesigen Werkzeugen und Loren. Mit der Zeit hatte der ständige »Regen« jeden einzelnen Gegenstand mit einer dicken Schicht aus hartem Kalk überzogen. Diese Ablagerungen hatten die Objekte in aufgeblähte Abbilder ihres früheren Selbst verwandelt, das nur in wenigen Fällen noch zu erkennen war.
    Es gab haufenweise Grubenholz, riesige Schraubenschlüssel, einen Eimer, viereckige Behälter, einen Tisch und drei Stühle und sogar eine Grubenlok, komplett mit Kessel, Schornstein und Führerstand, alles unter einer Kalkkruste.
    Erst wenn die Forscher über den glitschigen Boden an diesen Relikten vorbeigestolpert und -gerutscht wären, hätte der Schein ihrer Taschenlampen schließlich den Zahnarztstuhl erfasst, den ein schräger Baldachin vor dem Regen schützte und trocken hielt. Und selbst dann hätten sie ganz dicht herantreten müssen, um des Schreckens ihrer Entdeckung gewahr zu werden.
    Die Gestalt war ein Hydden, sein verkümmertes Fleisch mit Fäulnisflecken gesprenkelt, seine Muskeln und Sehnen durch Nichtgebrauch und Schrumpfung so verdreht und seine Glieder und Gelenke so deformiert, dass sich nicht mehr erkennen ließ, wer oder was er einst gewesen war. Seine Zähne waren verfärbt und

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