Das Erwachen
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Er tat es mit einem Erstaunen, das zunehmend in Schrecken überging. Sollten andere von den Wahrheiten erfahren, die Niklas Blut in seiner Schrift enthüllte, drohte die Stellung des Kaisers für immer untergraben zu werden.
Niklas Bluts Verbrechen bestand darin, den Versuch gewagt zu haben, eine Frage zu beantworten, die sich seit Jahrzehnten jedermann stellte: Wie konnte Slaeke Sinistral so jung bleiben? Kannte er gar das Geheimnis ewiger Jugend, das den vielen, die diesem zu allen Zeiten nachgespürt hatten, verborgen geblieben war? Wenn ja, worin bestand es?
Blut begann mit der Feststellung einer simplen Tatsache: Der Kaiser sah aus wie Mitte dreißig, doch wie aus den Aufzeichnungen unmissverständlich hervorging, lebte er seit über eineinhalb Jahrhunderten. Zudem ließ sich nirgendwo jemand finden, gleich wie betagt,der ihn anders in Erinnerung hatte als in dem Alter, das er noch immer zu haben schien.
Gewiss, er wurde manchmal müde und krank und verschwand aus der Öffentlichkeit, doch er kehrte jedes Mal zurück, von neuem Leben erfüllt.
Dies nährte allerlei Gerüchte. Es hieß, der wieder erschienene Sinistral sei womöglich gar nicht derselbe wie der verschwundene.
Blut hatte die Akten der letzten hundertfünfzig Jahre studiert, ermittelt, wann Sinistral jeweils erkrankt war, und diese Daten zu bestimmten kosmischen Ereignissen und Bewegungen der Erde in Beziehung gesetzt. Er hatte alte historische Aufzeichnungen durchforstet und zwingende Beweise dafür gefunden, dass bestimmte Individuen, Menschen wie Hydden, über Kräfte verfügt hatten, die über das Normale hinausgingen, und dass einige von ihnen ein außergewöhnlich hohes Alter erreicht hatten.
Jede dieser Personen hatte sich mit Geheimnissen umgeben und sich wiederholt wegen Krankheit aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, um nach einiger Zeit in ihr normales Leben zurückzukehren, erholt, gestärkt und in jeder Hinsicht jünger, als es ihrem Lebensalter entsprochen hätte.
Blut zog daraus einen einfachen Schluss: Da solche Fälle von Langlebigkeit erst seit der legendären Erschaffung der Steine der Jahreszeiten durch Beornamund von Brum auftraten, standen sie wahrscheinlich in einer direkten Beziehung zu diesen. Dass es so viele Geschichten und Gerüchte gab, die bestimmte Steine mit diesen Individuen in Verbindung brachten, wertete er als Bestätigung für seine Vermutung, wenn nicht sogar als Beweis für ihre Richtigkeit.
Was nun speziell Slaeke Sinistral anging, so behauptete Blut, er besitze den Stein des Sommers und verdanke seine anhaltende Jugend dem Umstand, dass er sich von Zeit zu Zeit den Kräften dieses Steins aussetze.
Alles entsprach vollkommen der Wahrheit, nur hatte es bislang niemand so deutlich ausgesprochen. Und damit nicht genug.
Blut hatte noch etwas anderes herausgefunden, und der Gedanke, dass andere davon erfahren könnten, beunruhigte den Kaiser.
Das Hinausschieben des Alterns mithilfe des Steins, so schrieb Blut, fordere seinen Preis. Jedes Mal, wenn der Kaiser seinen Körperdem intensiven Licht des Steins aussetze – wozu er sich auf einem Zahnarztstuhl festschnallen lasse, da der Vorgang heftigste Schmerzen in den inneren Organen verursache –, falle die Verjüngungsphase hinterher kürzer und der anschließende Erholungsschlaf länger aus. Dies erkläre, warum der Kaiser immer häufiger und länger abwesend sei.
Blut war sogar noch weiter gegangen und hatte ausgerechnet, wann der Stein des Sommers seinen Nutzen verlieren würde, weil der Kaiser die Schlafphase so weit ausdehnen müsste, dass sein Körper selbst bei sorgsamster Pflege kaum überleben konnte. Und selbst wenn er überlebe, so Blut, werde nach dem Aufwachen der körperliche Verfall so rasch voranschreiten, dass er sterben werde, bevor eine neue Verjüngungskur zum Tragen kommen könne, es sei denn, er finde eine andere Methode.
Als der Kaiser diese erschreckend zutreffende Beurteilung seiner Situation las, begriff er, dass er, um sein Geheimnis zu hüten, Blut entweder töten oder in seine Dienste nehmen musste, damit er ihm half, am Leben zu bleiben.
In dem Aufsatz des jungen Hydden stand noch vieles mehr, worüber der Kaiser Näheres zu erfahren wünschte. Nicht zuletzt, woher Blut wusste, wie er in den Besitz des Steins gelangt war. Auch in diesem Punkt hatte er nämlich ins Schwarze getroffen.
Jedermann wusste, dass einer der genialsten Hydden in den letzten zweihundert Jahren der geheimnisvolle ã Faroün gewesen war,
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