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Das Erwachen

Das Erwachen

Titel: Das Erwachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Horwood
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Er ließ wieder los.
    Zunächst geschah nichts, doch er war überzeugt, dass schon bald etwas geschehen würde. Sein fauliger Mund hauchte noch einmal den stinkenden Atem eines langen, vegetativen Schlafes aus, durch Zähne, die so wenig fest oder wohlriechend waren wie der widerwärtigste Käse. Die Augenlider, deren weiße, Stummelwimpern mit geronnenem Schleim verklebt waren, mühten sich noch immer vergeblich, sich zu öffnen.
    Eine blasse Zunge tippte an schmale, trockene Lippen.
    Dann drehte Kaiser Slaeke Sinistral den Kopf mit den dünnen, fettigen Haaren und der straffen, eitrig nässenden Haut langsam zur Seite und lauschte.
    Noch immer gingen die Augen nicht auf.
    Der linke Mundwinkel blähte sich, und schmutziger Speichel troff heraus, lief übers Kinn, schlüpfte wie eine Made in den Bart und nistete sich dort ein.
    Endlich ... ein Geräusch.
    Das Drehen eines gut geölten Schlüssels, das Knirschen eines Eisenriegels, dann eines zweiten. Ein Streifen gelben Lichts unter einer aufgehenden Tür, Schatten sich bewegender Füße und schließlich ein heller Strahl, der das Dunkel wie eine scharfe, goldene Axt durchschnitt, quer durch die Halle schoss direkt zu der Stelle, an der der Kaiser lag, das Gesicht ihm zugewandt. Endlich spürten die Augen Licht, die Lider versuchten sich zu öffnen.
    Sinistral drehte den Kopf weg, damit er nach so langer Zeit imDunkeln nicht geblendet wurde. Die Tür schwang weiter auf, mehr Licht flutete herein und an dem Kaiser vorbei in die Halle dahinter. Dann wurde die Tür leise wieder geschlossen, aber nicht ganz, sodass ein schmaler Lichtstreif blieb. Das war genug.
    Wimpern teilten sich, und ein Auge, dunkel und gebieterisch, blickte dazwischen hervor. Langsam stellte es sich scharf und fokussierte endlich den Regen, der das unter der Tür hereindringende Licht einfing. Der Kaiser sah einhunderttausend langsam fallende goldene Perlen.
    Es war wunderschön.
    Der Kaiser versuchte zu sprechen, konnte aber nicht.
    Schritte näherten sich durch die Halle dem Stuhl.
    Eine Hand berührte seine, und eine Stimme sprach. »Willkommen zurück, Herr. Sie haben uns sehr gefehlt.«
    Der Kaiser versuchte zu lächeln, konnte aber nicht. Wieder versuchte er etwas zu sagen, konnte es aber nicht.
    Alles, was er herausbrachte, war ein freudiges Zischen.
    »Ich werde jetzt gehen, kaiserliche Majestät, und Ihre Liebste rufen. Sie wird sich Ihrer annehmen und dafür sorgen, dass Sie wieder genesen und wohlbehalten ins Leben zurückkehren ...«
    Das Trommeln des Regens verlieh dem Kaiser eine Ruhe, die ihn zum Weinen brachte. Er atmete, tief und langsam.
    Das andere Auge ging auf.
    Der feine Regen wurde dreidimensional.
    Der Kaiser wandte den Kopf und sprach: »Sagen Sie ihr ...«
    »Ja, Herr?«
    »... dass ich ...«
    »Ja?«
    »... dass ich sie brauche.«
    »Das werde ich, Herr.«
    Der Hydden, der auf den Ruf des Kaisers geantwortet hatte und vorläufig als Einziger von seinem Erwachen wusste, war ein Beamter namens Niklas Blut.
    Sein offizieller Titel lautete Vorsteher der Kaiserlichen Kanzlei.
    Er war de facto der zweitwichtigste Mann in Hyddenwelt, auch wenn das niemand so sah, nicht einmal er selbst. Gleichwohl war Blutmit seinen vierzig Jahren ungewöhnlich jung für ein so verantwortungsvolles Amt.
    Aber er war auch ein ungewöhnlicher Hydden. Mit sechzehn hatte er bei den alle drei Jahre stattfindenden Examina in den Fächern Logik, Mathematik, Naturwissenschaft und Literatur von allen Kandidaten die besten Noten erzielt und dafür eine einträgliche Beamtenstelle erhalten. Als er siebzehn war, wiesen ihm seine Gegner nach, dass er sich Zugang zu Menschenliteratur und anderen verbotenen Schriften verschafft hatte. Mit achtzehn wurde er überführt, im Besitz eines gedruckten Aufsatzes zu sein mit dem Titel: Die Wahrheit über Kaiser Slaeke Sinistrals erstaunliche Langlebigkeit: ihre Geschichte, ihre Ursachen und ihr vermutlicher Ausgang.
    Der Aufsatz war, wie dergleichen Texte naturgemäß immer, ungelesen an das Kaiserliche Amt geschickt worden. Der Besitz solcher Schriften galt als Hochverrat. Sie zu lesen war ein todeswürdiges Verbrechen.
    Bluts Verbrechen wog viel schwerer: Er hatte den Aufsatz eigenhändig verfasst.
    Er wurde zum Tode verurteilt, doch der Kaiser musste das Urteil unterzeichnen.
    Slaeke Sinistral wurde neugierig, als er erfuhr, dass gegen einen so jungen Hydden die Höchststrafe verhängt worden war. Er setzte die Hinrichtung aus, um erst einmal den Aufsatz zu

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