Das Erwachen
Stein des Frühlings gefunden werden soll, denn dort ist er verlorengegangen. Alles, was wir brauchen, ist der Beweis, dass ein Riesengeborener ...«
Er stutzte erneut und fuhr, nun wieder leiser, fort: »Sie sagten, das zweite Kind sei eine ungewöhnliche Geburt gewesen.«
»Herr«, erwiderte Blut bestimmt, »Sie sollten jetzt keine Mutmaßungen anstellen. Sie brauchen Ruhe.«
»Blut, Sie verschweigen mir etwas.«
»Vieles, aber das alles kann warten, bis die Gnädigste kommt und Sie Gelegenheit hatten, sich wieder dem Licht des Steins des Sommers auszusetzen. Bis dahin ... dürfen wir uns nicht aufregen, Herr. Jetzt ist Schlafen angezeigt ...«
Der Kaiser schlief ein.
12
WACHSTUMSSCHMERZEN
F ünf Tage nach Jacks und Katherines Entschluss, Judiths Geburt vorläufig nicht zu melden, wurde immer deutlicher, wie schnell sie wuchs.
Jack hatte bereits gesagt, dass sie »komisch« aussehe, was die noch unter postnatalen Stimmungsschwankungen leidende Katherine tief bekümmert hatte. Doch es stimmte: Mal wirkten ihre Hände zu groß, mal ihr Kopf, dann wieder ihre Füße oder ihre Knie.
Das Verhältnis der Gesichtszüge zueinander – Nase, Augen, Wangen, Ohren und Kinn – verschob sich ebenfalls unablässig. Manchmal sah sie beinahe abstoßend aus. Ihre Körperkraft war für ein Kind ihres Alters zudem regelrecht unheimlich. Jack hatte recht: Sie war noch nicht so weit, dass man sie ohne weiteres als hübsches Kind bezeichnen konnte.
Doch erst Arthurs Messungen, die er alle vier Stunden vornahm, bestätigten, was alle vermuteten: Sie wuchs rasend schnell.
»Die Zahlen sind so verblüffend, dass ich ihnen selbst nicht traue, aber ich würde sagen, gemessen an der normalen kindlichen Entwicklung wächst Judith an einem einzigen Tag so viel wie ein normaler Säugling in hundert Tagen.«
»Du meine Güte«, sagte Margaret. »Das klingt nach sehr viel!«
»Das ist auch sehr viel«, erwiderte Arthur. »Es ist in der Tat erstaunlich.«
»Wie alt wäre sie dann jetzt?«, fragte Jack.
»Nun, es widerstrebt mir, auf der Grundlage dieser Zahlen eine solche Einschätzung vorzunehmen, aber ...«
»Aber?«
»Ich würde sagen, dass sie, rein körperlich, nach sieben Lebenstagen zwei Jahre alt ist.«
Fassungslose Stille trat ein.
»Und weiter ...«, drängte Jack, der eine Tabelle mit Berechnungen entdeckt hatte, die Arthur mehr schlecht als recht versteckte.
»Wenn sie weiter in diesem Tempo wächst«, sagte Arthur mit belegter Stimme, »wird sie Ende Mai ungefähr neun Jahre alt sein und zu Mittsommer fast sechzehn ...«
Die Fassungslosigkeit in den Gesichtern wich Entsetzen.
»Das bedeutet ...«, begann Katherine, in deren Kopf sich alles drehte.
»Das bedeutet, dass euer Neugeborenes Ende Juli mehrere Jahre älter sein wird als ihr selbst.«
»Aber ...«
»Aber was ist, wenn ihre seelische und geistige Entwicklung mit dem körperlichen Wachstum nicht Schritt hält?«, fuhr Arthur fort. »Tja ... das weiß ich nicht ...«
»Das wäre eine Katastrophe«, warf Margaret ein. »Das sagt einem doch der gesunde Menschenverstand. Aber was hat das alles schon noch mit gesundem Menschenverstand zu tun?«
»Dennoch geschieht es«, stellte Jack fest, »buchstäblich vor unseren Augen.«
»Wenn das wahr ist«, sagte Katherine, »wenn das wirklich wahr ist, dann ... dann muss sie schrecklich leiden. Jack hat heute Morgen gesagt, dass es Wachstumsschmerzen sein könnten, aber bei ihr ist es noch mal anders: Sie muss mit allem gleichzeitig fertig werden. Wofür wir Jahre gebraucht haben und dann immer noch nicht damit fertig waren, das muss sie innerhalb von wenigen Tagen und Monaten lernen. Und dann ... dann ...«
Katherine brach zusammen. Jack eilte zu ihr und legte die Arme um sie.
»Ist ja gut.« Aber er begriff schon im nächsten Moment, wie provozierend diese Bemerkung war.
»Nichts ist gut, alles ist verkehrt. Das ist die Zukunft. Wenn sie so schnell ...«
»Katherine!«, sagte Arthur energisch. »Hör auf. Bitte. Das alles stützt sich auf ein paar Messungen, und ich bin kein Fachmann in solchen Dingen, ich verstehe nur etwas von Statistik. Vielleicht hört Judith nächste Woche auf zu wachsen ... vielleicht heute ... Ich weiß es nicht.«
Das Gespenst der Zukunft ging unter ihnen um. Arthurs Berechnungen und Voraussagen zufolge würde Judith im kommenden Frühjahr eine alte Frau sein. Der Gedanke war zu schrecklich, um ihn zu Ende zu denken.
»Nun«, sagte Arthur wenig überzeugend, »was ich getan habe,
Weitere Kostenlose Bücher