Das Erwachen
ein Lautenspieler und Baumeister, Künstler und Mystiker. Blut glaubte, er habe vor Sinistral den Stein des Sommers besessen. Ã Faroün war Sinistrals Lehrer gewesen, und als er gestorben war, hatte sich der zukünftige Kaiser, damals Mitte dreißig, des Steins bemächtigt. Der Rest war Geschichte ...
Nach der Lektüre des Aufsatzes dachte Sinistral mehrere Tage nach, bevor er über sein weiteres Vorgehen entschied.
Er ließ seine drei ranghöchsten Berater rufen, die wenig später in unterwürfigem Schweigen vor ihn hintraten.
Solches Schweigen war er gewohnt. Groß, blond, von kräftiger Gestalt, mit intelligenten Augen, aus denen ebenso leicht finstere Absichten funkeln konnten wie Heiterkeit, war der Kaiser eine einschüchternde Erscheinung.
»Wie viele haben diese Schrift gelesen?«, fragte er den damaligen Vorsteher der Kaiserlichen Kanzlei.
Dem Vorsteher trat Schweiß auf die Stirn.
»Nur ich, Herr. Ich sah es als meine Pflicht an«, antwortete er nervös. Sinistral ließ den Blick über seine Berater wandern und entließ die beiden anderen mit einem leichten Nicken.
Dann zuckte er mit den Schultern. »Schade«, sagte er.
»Herr«, erwiderte der Vorsteher verzweifelt, »Bluts Aufsatz ist ein Hirngespinst, reine Erfindung, und ich habe schon wieder vergessen, was darin steht ...«
»Bedauerlicherweise ist er kein Hirngespinst, und dass Sie vergessen haben wollen, was darin steht, kann ich nicht glauben.«
Sinistral rief seine Fyrd-Garde. Ihm war klar, dass er den Beamten nicht am Leben lassen durfte. Das Wissen um sein Geheimnis verlieh dem Mann Macht, die ihm nicht gebührte.
Als die Gardisten kamen, deutete der Kaiser mit dem Kopf auf den unglücklichen Vorsteher. »Exekutiert ihn.«
»Jawohl, Herr.«
»Hier, wo ich es sehen kann. Ich muss wissen, dass er mit niemandem gesprochen hat.«
»Jawohl, Herr«, sagte der ranghöchste Gardist und spannte seine Armbrust. »Sofort?«
»Sofort.«
Der Kaiser stand auf, drehte sich weg und betrachtete die Aussicht, bis er das Schnalzen des von der Sehne schnellenden Bolzens hörte.
»Schade«, wiederholte er, als der Leichnam hinausgetragen wurde. »Er war ein kluger Verwalter und fähiger Diener des Reiches. Gebt ihm ein ehrenvolles Begräbnis. Jetzt ... muss ich einen anderen finden, der ihn ersetzen kann.«
Er hatte bereits den Entschluss gefasst, Blut zu befragen, nicht nur, weil er sich von ihm Antworten auf bestimmte Fragen erhoffte, sondern auch, um herauszufinden, ob er die Befähigung besaß, eine Kanzlei zu leiten.
Der Kaiser ließ ihn an den Hof nach Bochum bringen. Das Gespräch fand unter vier Augen statt.
»So ... Sie sind also Niklas Blut?«
»Ja. Einer.«
»Gibt es noch einen?«
»Meinen Onkel. Ein Metzger.«
»Wissen Sie, warum Sie hier sind?«
Blut zuckte mit den Schultern, die Frage interessierte ihn nicht. Er hätte raten müssen, um sie zu beantworten. Er zog Fakten und Berechnungen vor.
»Nein.«
»Können Sie es nicht erraten?«
»Raten kann jeder.«
Eine solche Schlagfertigkeit war der Kaiser nicht gewohnt. Seine Beamten begegneten ihm mit einem Respekt, der an Furcht grenzte. Blut machte einen furchtlosen Eindruck. Oder vielleicht war er einfach naiv.
Er musterte Blut, der seinen Blick erwiderte.
Äußerlich machte der junge Beamte nicht viel her. Er war von durchschnittlicher Größe, blass und trug eine irritierende Brille, die so fest um die Ohren gehakt war, dass ihre ovalen Gläser gegen die Wimpern drückten. Wie er damit richtig sehen konnte, war Sinistral ein Rätsel.
Als das Schweigen andauerte, nahm Blut die Goldrahmenbrille ab, putzte sie mit einem Taschentuch und setzte sie wieder auf, wobei er sie erneut fest gegen Nase und Augen presste.
Sinistral hatte das Gefühl, in zwei Spiegel zu blicken, deren Flächen gegeneinander geneigt waren und tanzende ovale Reflexionen in alle Winkel des Raumes sandten. Sie wirkten wie eine Ergänzung zu Bluts klugen, blaugrünen Augen, seiner scharfen Nase und dem straffen Mund und verstärkten Sinistrals Eindruck, es mit einem hochintelligenten Mann zu tun zu haben. Dieser Eindruck täuschte nicht.
Seine Akte wies ihn als tüchtigen Verwalter und hervorragenden Rechercheur aus.
»Ist Ihnen klar, dass es Hochverrat ist, nach der Quelle meiner Jugend zu forschen?«
»Ich finde, die Wahrheit sollte niemals Hochverrat sein, Herr.«
»Glauben Sie, dass ich den Stein des Sommers besitze?«
»Ich finde keine andere Erklärung für bestimmte Sachverhalte in Ihrem
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