Das Erwachen
bedurfte. Er ließ sich Zeit. Auch weil er wusste, dass eine Rückkehr in die wirkliche Welt mit großen Schmerzen verbunden sein würde, denn sie war eine Wiedergeburt von Körper, Geist und Seele.
Unterdessen gingen die Helfer, die ihn seit achtzehn Jahren pflegten, weiter ihrer Aufgabe nach. Sie lebten in dem riesigen Stollensystem, zu dem die Halle gehörte, und kamen, wenn er schlief oder in einem schlafähnlichen Zustand dämmerte. Er kannte weder ihre Namen noch ihre Gesichter. Sie bemühten sich nach Kräften, den Prozess seiner Zersetzung aufzuhalten, doch seit er immer wieder aufwachte und geistig und körperlich reger wurde, hatte sich sein Verfall so beschleunigt, dass sie nicht mehr mit ihm Schritt zu halten vermochten. Nicht diese Wesen der Nacht waren es, die er jetzt brauchte, sondern die Hydden des Lichts und die Anregungen und Nahrung, die sie ihm geben konnten.
Obwohl Sinistral wusste, dass er schnellstmöglich gesunden und in ein normales Leben zurückkehren musste, übte die Halle weiter einen Zauber auf ihn aus. Das lag an der Schönheit ihrer ungewöhnlichen Akustik, denn aus jeder Ritze und Spalte, jedem Riss und Sprung in der mächtigen Decke weit über ihm tropfte Wasser.
Tropf ... tropf ... tropf ...
Die sich ständig verändernden Klangmuster waren eine Folge des Umstands, dass jeder der tausend und abertausend Tropfen, die unablässig herabfielen, einem ganz eigenen Rhythmus gehorchte, der sich von dem aller anderen unterschied. Außerdem variierten die von ihnen erzeugten Geräusche in Tonhöhe und Klangfarbe. Sie veränderten sich mit den kaum merklichen Verschiebungen in den Harmoniender tektonischen Erdbewegungen nah und fern und mit den Unterschieden in der Wassermenge, die ein Echo von Regenfällen und Fließströmen an der Oberfläche waren, die Jahre, Jahrzehnte und bisweilen Jahrhunderte zurücklagen.
Ein kurzer Aufenthalt in der Halle genügte nicht, um die wahre Natur dieser Geräusche zu verstehen. Sie muteten chaotisch an, und es dauerte einige Zeit, bis ihre Muster offenbar wurden. Sinistral stellte fest, dass er diese Muster nicht nur erkannte, wenn er wach war, sondern auch, wenn er schlief. Dann vielleicht sogar noch deutlicher.
Mit der Zeit glaubte er, ihre Sprache gelernt zu haben und Zwiesprache mit ihnen zu halten. Er hörte die Klänge, und sie hörten ihn und antworteten. Sie waren eine Stimme, eine alte und immerwährende Stimme. Die vom endlos tropfenden Wasser erzeugte Musik war nichts anderes als die uralte Stimme der Erde und des Universums. So wie ein Sterblicher heute einen Stern sieht, der längst erloschen ist, so hörte der Kaiser in den Echos des unterirdischen Regens all die Stimmen der Vergangenheit. Er spürte, dass ihm die Zeit des langen Schlafes etwas gegeben hatte, das nur wenigen Sterblichen vergönnt war – ein Zwiegespräch mit dem Göttlichen.
Was er hörte, war für ihn Musik, ja er hielt es sogar für jene himmlische Musik, die Philosophen unter den Menschen und den Hydden als musica universalis beschreiben – jene harmonischen Klänge, deren Frequenzen für sterbliche Ohren unhörbar sind und deren Energie allen Dingen Leben und Zusammenhang gibt.
Er war sich sicher, ziemlich sicher, dass die Erde selbst ihn nach achtzehn Jahren geweckt hatte und dass sie durch die Erschütterungen in ihrer Kruste zu ihm sprach. Erschütterungen, die sich durch das Tröpfeln in eine musica verwandelt und ihm so übermittelt hatten, dass nach fünfzehnhundert Jahren endlich der Stein des Frühlings gefunden war.
Dies war besonders wichtig, denn wenn es ihm gelang, den Stein in seinen Besitz zu bringen, ließen sich seine Jugend und sein Leben noch weiter verlängern. Der Frühling war der Ursprung des Lebens, deshalb brauchte er ihn.
So waren die Tage dahingegangen, und nun wurde es Zeit, nach Hilfe zu rufen.
Er wusste, dass ihm Schmerz bevorstand, wie ihn die meisten Sterblichen niemals erfuhren.
Der Schmerz seines ganzen Körpers, der das Leben zurückforderte.
Der Schmerz der Sterblichkeit selbst.
Der Schmerz der Geburt: der schreckliche Urschmerz.
Er lauschte der musica ein letztes Mal. Er versuchte zu summen, er versuchte zu schreien, und dann überließ er sich endlich dem Schmerz des Sterblichen und hob den ausgezehrten Zeigefinger vom modrigen Leder, auf dem er ruhte. Der Finger tastete im Dunkeln nach dem Knopf, beugte die ihm verbliebenen schwachen Muskeln und hielt den Knopf wenige Sekunden gedrückt, bis seine Kräfte erlahmten.
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