Das Erwachen
dekorativ über den Tisch und den Fußboden. Doch der Lederbeutel mit dem Stein, den Stort in der Kanne versteckt hatte, blieb genau an der Aufschlagstelle liegen, als hätte ihn eine Hand behutsam dort hingesetzt.
Dann fiel der Beutel so unvermeidlich, wie nach der Ebbe die Flut kommt, auf die Seite. Heraus kullerte der Stein des Frühlings und zog die daran befestigte Kette hinter sich her.
Storts Freunde betrachteten ihn mit Verwunderung, er selbst mit Entsetzen.
Der Stein leuchtete immer heller, bis er schließlich in den Farben des Frühlings erstrahlte, die erstaunten Gesichter der Anwesenden beschien, ihre Augen zum Leuchten, ihr Haar zum Glänzen und ihre Zähne zum Blitzen brachte. Gleichzeitig stellten sich Bilder, Geräusche und Gerüche dieser Jahreszeit ein.
Mit einem Mal erfüllte Vogelgezwitscher Storts Stube, als wären sie im Wald. Das Gluckern eines Bächleins, das Säuseln des Windes, der über noch junge Blätter strich und ihnen einen Hauch zutrug, der nach Eisenhut, Augentrost, Schneeglöckchen und ersten Glockenblumen duftete.
Ihr Erstaunen und ihre Verwunderung waren komplett.
»Meine Freunde«, sagte Stort leise, »ich kann nicht länger schweigen. Ich glaube ... Ich bin mir sogar ziemlich sicher ... nun ja ... Sie sehen ja selbst, dass ich den Stein des Frühlings gefunden habe. Diese Entdeckung und die damit verbundene Verantwortung sind, was ich Ihnen verheimlicht habe.«
Brif betrachtete den Stein voller Ehrfurcht, griff zu seinem Amtsknüppel und hielt ihn vor sich, wie um sich vor den Kräften des Steins zu schützen. Wie eine Flüssigkeit schillerte das Licht des Steins in den alten Schnitzereien des Knüppels, floss zwischen ihnen umher, drehte und wand sich und kehrte wieder zu seinem Ausgangspunkt zurück.
Stort ergriff die Anhängerscheibe mit ruhiger Hand, schob sie inden Beutel zurück und steckte Letzteren in die Tasche, als tue er nichts weiter, als nach einem alltäglichen Einkauf seine Geldbörse zu verstauen.
Das Licht des Frühlings erlosch, und die Erde kam wieder zur Ruhe.
Stort war zutiefst erleichtert, dass das Geheimnis heraus war, zumal er in den Augen seiner Freunde nicht Zorn, sondern Mitgefühl las. Nun musste er die Last der Geheimhaltung nicht länger allein tragen.
»Es ist wohl offensichtlich«, sagte er, »was diese Entdeckung bedeutet.«
»In der Tat«, stimmte Brif zu, »denn allen Prophezeiungen zufolge bedeutet sie, dass die Schildmaid geboren wurde. Wann haben Sie ihn gefunden?«
»Am Jahreszeitenwechsel oder kurz danach, auf dem Waseley Hill ...«
»Das müssen Sie uns später noch ausführlicher erzählen. Zuvor müssen wir entscheiden, was nun zu tun ist. Mit der Ankunft der Schildmaid brechen auf der Erde, der Prophezeiung zufolge, schwere Zeiten an. Wie ja auch ihre Schwester Imbolc, die uns allen bekannte Friedensweberin, des Öfteren gesagt hat.«
»Aber diese schweren Zeiten dürften wohl erst anbrechen, wenn sie erwachsen wird«, sagte Pike. »Folglich bleiben uns Jahre, um geeignete Vorkehrungen zu treffen.«
Stort schüttelte den Kopf.
»Meine Nachforschungen zeigen, und Master Brif wird es bestätigen, dass eine Schildmaid in einem anderen Zeitrahmen lebt als ein Hydden oder ein Mensch.«
»Sie meinen, sie lebt langsamer, wie eine Unsterbliche?«, fragte Barklice.
Diesmal war es Brif, der düster dreinblickte.
»Wir glauben, genau das Gegenteil ist der Fall. Obgleich sie wie eine Sterbliche geboren wurde ...«
Stort nickte. »Katherine stand kurz vor der Niederkunft, als wir uns trennten und sie mit Jack in die Menschenwelt zurückkehrte. Ich zweifele nicht daran, dass es sich bei ihrem Kind um die Schildmaid handelt. Doch obwohl es normal auf die Welt gekommen ist,wird es erheblich schneller wachsen und altern als ein Mensch. Die irdische Zeit einer Schildmaid ist kurz bemessen. Ihr Leben ist voller Mühsal und Schmerz.«
»Wie kurz?«, fragte Pike.
Brif und Stort tauschten einen Blick, als sei das, was sie zu sagen hatten, zu unfassbar oder zu schwer zu verstehen, um es laut auszusprechen.
»Der große Philosoph und Lautenspieler ã Faroün«, sagte Brif schließlich, »dessen Werk ich gründlich studiert habe, vertritt die Ansicht, dass das Leben einer Schildmaid nur ein Jahr dauert. Machen Sie sich klar, was das bedeutet, meine Herren. Die Zeit, die sie im Mutterleib verbracht hat, ist gewissermaßen der Frühling ihres Lebens. Es könnte gut sein, dass ihr Sommer bereits begonnen hat ...«
»Aber ...«, wandten
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