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Das Erwachen

Das Erwachen

Titel: Das Erwachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Horwood
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etwas, das sich wohl nie zu neuem Leben erwecken ließ. Aber sie schlossen andere nicht aus. Sie nahmen auch Sterbliche fremder Herkunft in ihre Gemeinschaft auf, darunter Bilgener, die ihnen mit ihrer Stärke und Gutmütigkeit gute Dienste leisteten.
    Dagegen begannen andere, ihre Feinde draußen, welche die Dissonanzbarrieren, mit denen sie sich schützten, nicht zu überwinden vermochten, die Übriggebliebenen zu fürchten.
    Solcherart war die seltsame Welt unter Bochum bis 1942, als sich oben bei den Menschen alles änderte und infolgedessen auch unten in der Welt der Übriggebliebenen.
    Waffen verleiten zum Krieg, bei den Menschen wie bei den Hydden.
    Der große Weltkrieg unter den Menschen brachte aus England einen Hagel der Zerstörung über die Menschenstädte im Ruhrgebiet, auch über Bochum. Bomben fielen, Häuser und Fabriken gingen in Flammen auf, Feuerstürme wüteten, und die Übriggebliebenen litten.
    Stollen stürzten ein oder wurden überflutet, giftige Gase breitetensich aus, die Dissonanzbarrieren brachen zusammen, und Einfälle der bösen Hydden aus der Umgebung häuften sich.
    Die Übriggebliebenen zogen sich in größere Tiefen zurück, nutzten nur noch so wenige Stollen wie möglich und machten die große Kammer zum Mittelpunkt ihres Lebens.
    Geburten blieben aus, die Angst regierte, die Hoffnung erlosch, die Jungen zogen fort, und alles schien verloren.
    Dann, 1945, als der Krieg oben endete, geschah ein Wunder.
    Der Große, dessen Kommen seit langem prophezeit war, erschien in ihrer Mitte. So glaubten sie jedenfalls. Der Hydden, den der Zufall in ihre Kammer führte, war kein anderer als Slaeke Sinistral. Er war auf der Suche nach einem sicheren Versteck für den Stein des Sommers. Was er fand, war weit mehr als das.
    Freilich wusste er nicht, dass die Übriggebliebenen da waren, denn sie zeigten sich ihm nicht.
    Er war ebenso geräuschvoll gekommen wie andere vor ihm, aber weder in feindlicher Absicht noch in Begleitung vieler.
    Er war allein und bewies Mut.
    Sie hörten ihn schon viele Tage, bevor er die Kammer erreichte. Zuerst fürchteten sie sich, dann aber schöpften sie neue Hoffnung.
    Sie spürten seine dunkle Seite sofort, aber auch etwas, das er selbst nicht spüren konnte: dass sich hinter dem Sinistral, den die Welt kannte und fürchtete, ein Wesen von hoher Intelligenz und großer Empfindsamkeit verbarg.
    Er stieg zu ihnen herab, Ebene um Ebene, tastete sich voran, strauchelte hier, stolperte dort, und die feinen Schwingungen, die er aussandte, waren erfüllt vom Licht des Sommers, dessen Quelle sie weder kannten noch erahnen konnten. Ihnen war, als lege er in die musica das Licht ihres vergessenen Frühlings, die Wärme ihres verlorenen Sommers, die eindringliche Poesie des Herbstes, an die allein noch ihre alte Kunst erinnerte, und die rauhe, reine Kälte des entschwundenen Winters.
    Bis er endlich die Kammer erreichte.
    Nach ausgiebiger Beratung beschlossen sie, keine Dissonanzen zu erzeugen, die ihn aus so großer Nähe mit Sicherheit getötet hätten.
    »Er könnte der Große sein«, sagte einer der Alten. »Gebt ihm eine Chance. Wir spüren, dass er uns nichts Böses will.«
    »Er weiß ja gar nicht, dass wir hier sind!«
    »Was will er hier?«
    »Lauschen.«
    »Wie sieht er aus?«
    »Schön, so wie auch wir einst ausgesehen haben. Groß, stark, flink, wie ein Gott. Könnt ihr ihn nicht sehen?«
    Natürlich konnten sie, denn die Übriggebliebenen sehen durch Klang. Als der Fremde in der Kammer stand, sich entkleidete und das tropfende Wasser auf sich fallen ließ, wie um seine Seele zu reinigen, da hörten sie seine Gestalt in den Veränderungen des Klangs, in der Art, wie das Wasser über seinen Körper rann, wie er die Arme hob und das Universum anrief, indem er seinen Schmerz und seine Angst hinausschrie.
    Doch das war weder das Wunder noch der Beweis dafür, wer er wirklich war. Nein, das kam erst Stunden später.
    Er ging von der Mitte der Kammer zu einem trockenen Zugangsstollen, in dem er seine Kleider abgelegt hatte. Er zog sich an, er schlief, er aß, er dachte nach.
    Dann, nach langem Zögern, öffnete er die Tasche, die er, wie sie hören konnten, bei sich trug.
    Er hob eine Art Kasten heraus.
    Er öffnete ihn.
    Wieder zögerte er.
    Dann entnahm er ihm einen Beutel, dessen Weichheit die Übriggebliebenen entzückte, entledigte sich abermals seiner Kleider und schritt nackt zur Mitte der Kammer, sein Licht eine Laterne, die sie hören, aber natürlich nicht sehen

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