Das Erwachen
der sie durchquerenden Flüsse Ruhrgebiet genannt wurde, einer der größten Industrieballungsräume der Menschen auf der Erde. Die zahllosen hohen Schornsteine spien so viel Rauch aus, dass er sich wie eine Glocke über das Land stülpte und häufig, selbst an den klarsten Tagen, die Sonne verdunkelte. Im zwanzigsten Jahrhundert wurde das Gebiet zu einer der bedeutendsten Waffenschmieden der Welt.
Gleichzeitig waren im Laufe der Jahrhunderte Generationen von Hydden in die stillgelegten und vergessenen Stollen und Schächte des Ruhrgebiets eingezogen und hatten ihre unterirdischen Siedlungen immer weiter ausgedehnt, sodass sie inzwischen Hunderte von Quadratkilometern und viele Ebenen umfassten.
Zudem hatten sich in dieser Zeit unter den Hydden Dutzende von Stämmen und Gemeinwesen mit unterschiedlichen Sprachen und Dialekten, Sitten und Religionen herausgebildet. Lokale Reiche entstanden und verfielen. Ganze Literaturen erblühten, musikalische Schulen erfuhren ihren Aufstieg und Niedergang, Künstler, Baumeister und Philosophen wurden gefeiert oder verfolgt.
Keine andere Region in Hyddenwelt erlebte eine vergleichbare unterirdische Geschichte.
Dennoch ...
Im späten neunzehnten Jahrhundert hielt das Verderben Einzug in die unterirdischen Gänge an der Ruhr. Die wahrscheinliche Ursachewaren die Gifte und Gase der Industrieabfälle und Abraumhalden an der Oberfläche, die in die Tiefe drangen.
Das blühende Leben unter Tage welkte und verkümmerte. Die alten Gemeinwesen zerfielen, Kunst und Handwerk erfuhren einen Niedergang. An die Stelle der allgemeinen Ordnung traten ein nahezu allgegenwärtiges Chaos und Anarchie.
Nur hier und dort behaupteten sich ein paar alte unterirdische Siedlungen und Kulturen, deren blasse, von chronischen Krankheiten geschwächte Mitglieder den Kontakt zu anderen mieden. Ihre stärkeren, verderbteren Feinde durchstreiften das Brachland oben und hielten Hunde als Machtinstrumente – die großen, aggressiven Rassen, die manche Menschen bewundern und züchten. Deswegen fürchteten die friedsameren Überlebenden die Oberfläche mit der guten Sonne und dem Grün der Erde immer mehr und zogen ein Leben in der Abgeschiedenheit und immerwährenden Dunkelheit der Stollen tief unter der Stadt vor.
Wie es sich ergab, verlor eine dieser friedsameren, vergessenen Hyddengemeinschaften das Sehvermögen. Ihre Mitglieder begannen neben dem gesprochenen Wort auch Berührungen und Schwingungen zur Kommunikation zu nutzen, erhielten ihr alte Sprache am Leben und bewahrten ihr Erbe, auch wenn sie die herrlichen Kunstwerke ihrer Vorfahren nicht mehr sehen und die erstaunlich komplizierte Musik ihrer Komponisten nicht mehr ohne weiteres spielen konnten.
Diese Gemeinschaft war nicht fruchtbar.
Die Gifte, die sie im Verlauf der Generationen des Augenlichts beraubt hatten, hatten auch die Samen der Männer nahezu steril und die Eizellen der Frauen beinahe unbrauchbar gemacht.
Aber nicht ganz.
Dann und wann wurde ein Kind geboren: arme, kleine, blasse Dinger, an deren Hege und Pflege sich alle Mitglieder der Gemeinschaft beteiligten und an die sie weitergaben, was sie an Wissen über ihre Geschichte bewahrt hatten.
Sie lehrten sie, dass es eine Sache namens Licht gegeben habe, die ihnen von den an der Erdoberfläche waltenden Kräften des Bösen gestohlen worden sei. Eines Tages, so sagten sie, werde ihnen ein Großer das Licht zurückbringen, und mit dem Licht ein neues Leben,sodass sie wieder sehen würden. Sie lehrten, dass Frieden gut und Krieg schlecht sei. Dass jedes Leben kostbar sei, selbst ein böses. Dass Güte Güte und Bosheit Bosheit bringe. Und dass ihnen trotz ihres Niedergangs im Laufe der Jahrhunderte ein großes Geschenk zuteilgeworden sei.
Ein Geschenk in Form von Schwingungen, die für sie Klang waren.
Schwingungen, die im Tropfen, Fallen und Fließen des Wassers widerhallten.
Die der Klang des Universums selbst waren.
Die musica.
Jedes Neugeborene dieser friedvollen Gemeinschaft wurde feierlich in den fallenden Wassern der Erde getauft, und zwar in ebenjener unterirdischen Halle, die der Kaiser von Hyddenwelt, der sehr viel später kam, seine Schlafkammer nannte.
Sie war der Mittelpunkt ihres Glaubens. Ja, sie war, durch den Klang, ihr Auge ins Universum.
Aus diesem Grund nannten sich diese Leute insgeheim, in ihrer stummen Sprache der Schwingungen und Berührungen, die Übriggebliebenen. Übriggeblieben von all dem, was einst gut und schön gewesen war. Übriggeblieben von
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