Das Erwachen
bereit. Er fühlte sich sehr geliebt.
Blut war da. »Sie ist in Bochum, Herr.«
»Sie ist wohl auch bei mir gewesen«, erwiderte er und deutete vergnügt auf die Kerzen und das Wasser.
»Sie ist wieder gegangen, da sie Sie nicht wecken wollte. Sie wird bald zurück sein.«
»Sieht sie gut aus?«
»Die Gnädigste ist wie immer sehr schön.«
Slaeke Sinistral nickte und lächelte.
»Für mich war sie immer die Schönste, seit ich sie zum ersten Mal gesehen habe ...«
Im Jahr 1966, zwanzig Jahre nachdem Sinistral seine Anhänger von Hamburg nach Bochum geholt und sein Wirtschaftsunternehmen in ein Kaiserreich umgewandelt hatte, kam es in der Großen Halle auf Ebene 2, in der die täglichen Geschäfte des Reiches abgewickelt wurden, zu einem denkwürdigen Vorfall.
Eine Bürgerin des Reiches, eine hochschwangere, couragierte Frau aus dem fernen Thüringen, war allein nach Bochum gekommen, um dem Kaiser am Mittsommertag ein Bittgesuch vorzutragen, was Untertanen wie ihr nur an diesem Tag gestattet war.
Gewöhnlich war dieses Ereignis ein Fest für die Höflinge, denn die Bittsteller wurden sorgsam ausgewählt und ihre Gesuche ohne große Umstände bewilligt. Wie die Frau es geschafft hatte, an den Beamtenvorbeizukommen, wusste niemand, doch plötzlich stand sie vor dem Thron des Kaisers und prangerte mit klarer Stimme und ebensolchen Worten ein von der Fyrd begangenes Unrecht an, was selten vorkam.
Leider hatten die lange anstrengende Reise, der Streit, den sie mit Höflingen und Beamten hatte austragen müssen, um gehört zu werden, und vielleicht auch der Umstand, dass der Kaiser nun leibhaftig vor ihr saß, zur Folge, dass plötzlich die Wehen bei ihr einsetzten, ausgerechnet hier und jetzt.
Die Hofbeamten wussten nicht, was tun, die Höflinge waren entsetzt, und der damalige Schattenmeister griff zum Kaiserlichen Knüppel, als müsste er den Kaiser gegen einen Angriff verteidigen.
Unterdessen schrie die Frau in den Wehen, Sonnenlicht flutete herein und erhellte die seltsame, unvermutete Szene, und mit einem Mal erfüllte Kindergebrüll die Große Halle.
Alles hätte ein gutes Ende nehmen und mit einem Lachen abgetan werden können, doch leider verlor die Mutter so viel Blut, dass sie kurz darauf starb. Kein Bittgesuch um Hilfe und weitergehenden Beistand hätte eine deutlichere Sprache sprechen können.
Das Kind, ein Mädchen, wurde sofort in die Obhut des Hofes genommen. Eine Amme wurde bestellt, eine Suche nach etwaigen Verwandten in Thüringen eingeleitet. Letztere beanspruchte geraume Zeit und blieb ohne zufriedenstellendes Ergebnis. Das Kind war eine Waise ohne Angehörige.
Inzwischen hatte sich der Kaiser persönlich des Falls angenommen, vielleicht weil er in seinem langen Leben nie ein Kind hatte zeugen oder einer Geburt hatte beiwohnen können.
»Wie heißt sie?«, fragte er einige Tage nach der Geburt.
»Sie hat noch keinen Namen, Majestät, und wer sollte ihr einen geben, wenn nicht Sie?«
Er nahm sie nicht in den Arm, sondern blickte auf das wonnige Ding hinab, das noch zu jung war, sich zu winden oder zu lächeln. Es konnte schauen, was es auch tat, und einen oder zwei Finger öffnen. Das Tanzen, das Singen, das Lachen, das alles kam später, wie auch die Spiele, die einen zur Verzweiflung bringen konnten, das plötzliche Verschwinden und Wiederauftauchen, mit großen Augen, als wollte sie sagen, sie sei nie fort gewesen. Und die gefährliche Neugier auf Dinge, die sie nichts angingen – dies alles sollte erst noch kommen.
Bevor diese ganze wundersame Reise ins Leben begann, sah er sie noch einmal an und sagte, einer plötzlichen Regung folgend: »Wie wäre es, wenn wir sie ...«
Namen schossen ihm durch den Kopf. Der seiner Mutter? Grässlich. Der seiner Schwester? Nein! Der von sonst jemandem? Keiner drängte sich auf, und er selbst hatte kein gutes Gedächtnis für Namen. Er wandte sich an Slolte Kreche, einen Fyrd, dem er vertraute.
»Machen Sie einen Vorschlag«, sagte er.
»Anna.«
»Langweilig.«
»Lisbeth.«
»Nein.«
Kreche zog die Stirn kraus. Ihm fiel kein Name mehr ein.
»Wie heißt Ihre Großmutter?«
»Äh ... Margretta, glaube ich. Sie stammt aus dem Süden.«
»Dann Margarethe«, sagte der Kaiser. »Nennen wir sie so!«
Das taten sie, aber der Name passte nicht zu ihr und gefiel ihr nie.
Was immer sie war, eine Margarethe war sie jedenfalls nicht.
Der Kaiser adoptierte sie, und sie entwickelte sich zu einem Wildfang, der am Hof und in den Korridoren von
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