Das Erwachen
zu ihm in die Kammer und fasste ihn bei der Hand.
»Herr«, begann sie.
»Leetha ...«, fuhr er fort.
Ihre Gespräche schienen nie zu enden und knüpften stets nahtlos dort an, wo sie beim letzten Mal unterbrochen worden waren. Es war das erste Mal in Slaeke Sinistrals Leben, dass er das Gefühl hatte, nur um seiner selbst willen geliebt zu werden.
»So schlimm haben Sie noch nie ausgesehen«, sagte sie. »Wirklich abscheulich. Ich bin zur rechten Zeit gekommen.«
»Ja. Morgen muss ich mich wohl wieder den Kräften des Steins aussetzen ...«
»Morgen, unbedingt. Ich habe Blut davon in Kenntnis gesetzt. Und auch die Übriggebliebenen, obwohl das gar nicht nötig gewesen wäre. Sie wissen es. Sie haben Angst, dass Sie sterben könnten. Doch sie freuen sich auch darauf, wieder das Licht des Steins zu erfahren.«
»Ich bin es, der Angst haben sollte.«
»Blut und ich werden hier sein. Wir lieben Sie. Wir werden Ihnen beistehen.«
Sie verharrten in geselligem Schweigen.
»Wie ich von Blut höre«, sagte Kaiser Sinistral nach einer Weile, »ist Witold Slew Schattenmeister geworden.«
»Er kann alles werden, was er will. Ich mag ihn nicht, und er mag mich nicht.«
»Also, ich mag ihn ... und ich möchte ihn sehen.«
»Jetzt, Herr, noch vor Ihrer schweren Prüfung?«
»Ich könnte sterben. Er ist dein Sohn. Ich möchte ihn sehen ... Blut!«
Wenig später wurde Witold Slew hereingeführt.
Er war groß, größer als der Kaiser in seinen besten Jahren. Seine schwarze Fyrd-Uniform, teilweise aus Leder und von bester Qualität und vorzüglichem Schnitt, kontrastierte mit dem nahezu weißen Blond seines gepflegten, eingefetteten Haars. Er besaß blasse Haut, schwarze Augen und die funkelnde kalte Schönheit eines geschliffenen Diamanten.
Bei Hofe kursierten verunglimpfende und durchaus unzutreffendeGerüchte über das Verhältnis von Slew zum Kaiser – ihre Ähnlichkeit in Wuchs und Haarfarbe war reiner Zufall.
Der Stuhl wurde herumgedreht.
Licht ergoss sich über die hässliche Gestalt des Kaisers.
»Er sieht nicht mehr so gut wie früher«, raunte Blut Slew zu. »Er wird Sie nur verschwommen erkennen.«
»Ich wünschte«, sagte Slaeke Sinistral, dessen Augen gelben Eiter weinten, mit brüchiger Stimme, »ich könnte dich besser sehen. Aber ich kann nicht. Deshalb muss ich mich auf Worte und die musica verlassen. Sieh mich an, Witold Slew, sieh mich genau und lange an ...«
Slew musterte den Kaiser mit kühler, unbewegter Miene.
Ringsum spielte die Musik des Regens.
Dazwischen wogten feine Nebelschleier.
Es wurde kalt.
»Was siehst du?«, fragte der Kaiser.
»Verfall«, antwortete Slew.
»Was siehst du noch?«
»Einen, der Kaiser war, es aber nur noch dem Namen nach ist. Ich hoffe ...«
»Was du hoffst, interessiert mich nicht«, unterbrach ihn Sinistral scharf, »sondern deine Ausbildung. Wer hat dir beigebracht, so gut zu kämpfen?«
Slew nannte den Namen seines Lehrers.
»Der Beste«, befand der Kaiser. »Hat er dir gesagt, dass ich es ihn gelehrt habe?«
Das erste Aufflackern einer Regung in Slews Augen: Erstaunen, dann Respekt.
»Wen siehst du noch, außer einen Kaiser?«
Slew zögerte.
»Da ich Schattenmeister bin, sehe ich meinen Herrn, dem ich Ergebenheit und mein Leben schulde.«
»Gut. Und als Schattenmeister wirst du den Befehl befolgen, den ich dir nun gebe und den du, einerlei was morgen mit mir geschieht, bis zum Ende ausführen wirst. Verstanden?«
Slew nickte.
»Mein Befehl ist ganz einfach. Er muss unverzüglich ausgeführt werden. Ich möchte, dass du Bochum binnen einer Stunde verlässtund zur Küste aufbrichst ... Zeit ist kostbar. Blut wird dir alles Nähere erklären. Ich befehle dir, nach Englalond zu reisen und mir etwas zu bringen, das ich benötige. Blut wird dir sagen, was es ist. Handle rasch und entschlossen. Wenn du töten musst, um den Gegenstand zu bekommen, dann töte, aber nicht im Übermaß.«
Slew nickte.
Das Gespräch schien beendet.
Dem Kaiser fielen die Augen zu.
Doch als Slew von Blut hinausgeführt wurde, rief Sinistral: »Witold, du sollst wissen, dass ich mit dir zufrieden bin ... Wie kommt es, dass deine Mutter dir ... misstraut?«
»Sie mag mich nicht, Herr.«
»Warum nicht?«
Er zuckte gleichgültig mit den Schultern.
»Sie hat es mir einmal gesagt, aber ich habe nicht verstanden, was sie damit gemeint hat.«
»Was hat sie denn gesagt?«
»Dass ich kein Mitgefühl hätte.«
»Da hat sie recht. Ich kann es spüren wie einen kalten
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