Das Erwachen
schob die Hände unter seinen Kaiser, der nur noch aus Haut und Knochen bestand.
Er hob ihn hoch wie ein krankes Kind und wiegte ihn.
Leetha breitete eine Decke über den Kaiser, Blut eine zweite.
Seinen Kopf bedeckten sie mit einem Zipfel des weichen Stoffs.
Blut ging voraus zu dem alten Aufzugschacht, dem einzigen Weg von Ebene 18 nach oben. Die Kabine war eng, doch sie zwängten sich alle hinein. Als der Aufzug quietschend anfuhr, ruhte des Kaisers Kopf an Kreches Brust. Das Ruckeln verursachte ihm Schmerzen, sein Stöhnen war zum Erbarmen.
Langsam schwebten sie nach oben, Ebene um Ebene der Erdoberfläche entgegen, dann hinaus in die kalte Nachtluft.
»Lassen Sie mich nicht fallen, Kreche, lassen Sie mich nicht fallen ...«
»Nein, Herr.«
Sie stiegen aus.
Der ewige Nachthimmel mit dem Mond und all seinen Sternen wölbte sich über ihnen. Der Kaiser streckte die Hand danach aus, lachte vor Freude, weinte vor Schmerz. »Er ist so schön. Horcht!«
»Was hören Sie?«, fragte Kreche.
»Die musica, mein Freund, ich höre die musica. Sie ist das Sternenlicht in meinen Augen, sie ist die kalte Luft auf meinem Gesicht, sie ist die Kraft Ihrer Arme und die Berührung meiner Liebsten. Und Blut ...?«
»Ja, Herr?«
»Die musica sind auch Sie. Können Sie sie nicht hören?«
Sie standen unter den Sternen Bochums und lauschten der Nacht.
»Sie ist alles und überall«, sagte er.
»Sie ist auch Sie«, sagte Leetha.
Sie lauschten weiter, bis sie schließlich vor Kälte fröstelten.
»Nun bin ich zum Schlafen bereit«, verkündete er. »Morgen ...«
»Wir haben schon morgen«, sagte Blut.
17
EIN GEFÄHRLICHER WENDEPUNKT
M it drei«, rief Arthur, um das Gebrüll Judiths zu übertönen, die auf dem Küchenboden saß und gerade einen Wutanfall hatte, »kann ein Kind einen Malstift halten und ein Gesicht zeichnen, selbständig einen Mantel an- und ausziehen, mit einem Löffel essen, ohne zu kleckern, und – sehr witzig – einen Wutanfall bekommen!«
Katherine hob die strampelnde Judith auf, die so laut schrie, dass ihnen die Ohren schmerzten, und gab sie Jack.
»Das alles kann sie schon«, sagte sie. »Außerdem kann sie laufen, sprechen, Fantasiefreunde haben und Dreirad fahren.«
»Und selbst lenken ... nicht wahr?« Jack grinste zu Judith hinauf, die in der Luft hing, mit hochrotem Gesicht auf ihn herabsah und wütend nach ihm trat.
Ihr Äußeres hatte sich deutlich verbessert, obgleich sie immer noch etwas sonderbar aussah. Sie hatte dunkles Haar wie Jack, braune Augen, recht volle Lippen, ein kräftiges Kinn und eine Stupsnase. Ihre Haut war dunkler als Licht, und ihr Gesicht konnte alle möglichen Ausdrücke annehmen, auch lächeln, was es allerdings selten tat.
Ihr Gesicht verriet auch, dass sie litt.
Denn noch immer plagten sie unablässig Schmerzen, besonders nachts. Daher schlief sie nicht gut und sah müde aus.
Ihre Zähne, die Katherine vorübergehend Ärger bereitet hatten, waren kräftig und weiß. Sie nahm noch die Brust, was Katherine bei einem so großen Kind befremdend, sogar abstoßend fand, aber so war es nun mal. Laut schmatzendes Saugen, Beine, die beim Trinken vor Wonne strampelten, kräftige Hände, die an Katherines Still-BH zerrten und ihre Bluse aus der Form brachten.
In punkto Ernährung bildeten sie ein symbiotisches Paar, denn auch Katherine futterte wie ein Scheunendrescher, und zwar vonallem, ohne Unterschied. Einkaufen – was Margaret und Arthur bisher stets in aller Ruhe erledigt hatten, wobei sie über jeden Artikel diskutierten, mit Bio-Kost liebäugelten, bei Cola zögerten, obwohl Margaret gern Cola trank, und über Kopfsalat ins Grübeln gerieten, weil Margaret besseren zog –, Einkaufen war zu einem Alptraum geworden.
Zuerst hatten sie immer zu wenig eingekauft.
Dann hatten sie immer zu wenig von dem gekauft, was die anderen sich wünschten, weil Katherine alles aufaß.
Jetzt – keine zwei Wochen später – luden sie haufenweise Junkfood in den Einkaufswagen, weil Katherine nichts anderes mehr wollte, und kurvten im Eiltempo durch den Supermarkt, um nur schnell wieder nach Hause zu kommen und zu helfen.
Wenn Katherine ihr Essen hinunterschlang, reckte ihr Judith manchmal die Arme entgegen, ließ sich hochnehmen und dockte so gierig an, dass man das Gefühl hatte, sie sauge alles gleich wieder aus ihrer Mutter heraus. Die beiden waren im Bett unzertrennlich und vertrieben Jack ins Kinderzimmer, worüber er aber nicht verstimmt war. Er schlief auf dem
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