Das Eulentor
sagen würdest. Hätte ich doch mein Maul gehalten.«
»Von den Hunden hätte ich sowieso erfahren.« Ich starrte auf die Hügel. »Wir sollten erst dann weitermachen, wenn wir mehr über den Schacht wissen.«
»Wir wissen aber nichts darüber! Gerade deshalb müssen wir weitermachen. Ihn erforschen! Dort unten ist etwas, und ich muß rauskriegen, was es ist. Ich habe lange mit mir gerungen, aber während der letzten Tage, in denen Brehm unten war, habe ich eine Entscheidung getroffen: Ich gehe auf Maximaltiefe!«
Maximaltiefe! Mir rieselte ein Schauer über den Rücken. »Auch wenn der Schacht als nächstes ein Menschenleben fordert?«
Ohne eine Antwort zu geben, starrte Hansen über die Felswand zum Meer hinunter.
ZWÖLFTES KAPITEL
I ch verbrachte den restlichen Abend in der Station. Seit meinem letzten Besuch war das Lager größer geworden, vor allem die Unterkünfte. Hansen, Brehm und jeder der fünf Erdfahrer, die im Lager lebten, besaßen eine eigene Kammer, die Stück für Stück an das Zentralgebäude angebaut worden war. Durch die Station verlief ein langer Korridor, der in die einzelnen Abschnitte führte. Den zentralen Punkt bildete aber nach wie vor der Schachtraum mit den Labors. Hinter dem Hauptgebäude lagen der Hundestall, die Waren- und Vorratslager, die Dieseltanks, Werkstätten und das Generatorhaus. Damit war die Station zu einer kleinen, autonomen Siedlung gewachsen. Allerdings waren die Zustände verheerend, da der gesamte Ort einer heruntergekommenen Spelunke glich, um die sich niemand kümmerte.
Während ich mit dem Seesack über der Schulter durch die Station ging, begegnete ich keinem Menschen. Ich hörte zwar dumpfe Stimmen aus dem Kasino, wie Hansen den Aufenthaltsraum nannte, doch warf ich keinen Blick hinein – noch nicht. Statt dessen betrat ich mein altes Zimmer. Sogleich strömten jede Menge vertrauter Gerüche auf mich ein, von den Holzbalken, Öllampen, dem Kerzenwachs, dem frischen Bettlaken oder dem Papier der zahlreichen Bücher in den Regalen. Ich leerte den Inhalt des Seesacks auf das Bett und begann, mich für einen mehrtägigen Aufenthalt einzurichten. Nachdem ich das Feuer im Ofen entfacht, die Öllampen entzündet und meine Habseligkeiten im Schrank verstaut hatte, kochte ich einen starken Kaffee auf der Herdplatte. Bevor ich die Männer im Kasino begrüßen würde, wollte ich mir die Personalakten ansehen, die mir Hansen auf das Schreibpult gelegt hatte.
Bei einer Tasse des heißen Gebräus blätterte ich durch die Dossiers, die allerdings nur Vornamen enthielten. Die norwegischen Erdfahrer hießen Gjertsen, Rönne, das Brüderpaar Björn und Nilsen, sowie Marit. Eigentlich hieß sie Marita, aber alle nannten sie Marit. Sie war die einzige Erdfahrerin. Hansen und Brehm hatten den Akten einige handschriftliche Notizen beigefügt. Falls nur die Hälfte davon stimmte, war ich in der reinsten Klapsmühle gelandet, denn jeder der Erdfahrer hatte einen anderen Tick.
Die beiden Brüder Björn und Nilsen waren zwei hochgewachsene, grobschlächtige Kerle. Entsprechend Brehms Notizen waren sie leicht auseinanderzuhalten. Björn, der jüngere, scherte sich einmal pro Woche den Kopf kahl, damit jeder auf seiner Glatze die tätowierten Namen der Frachter lesen konnte, auf denen er als Matrose angeheuert hatte. Zweifelsohne war er der Intelligentere der beiden. Nilsen, sein älterer Bruder, war ebenfalls ein Hüne von einem Mann, aber der verrücktere der beiden. Bei einer Wette auf einem russischen Frachter hatte er sich mit einem Messer drei einzelne Fingerglieder abgetrennt. Ich hatte von diesen Spielen und Mutproben gehört, bei denen sich Männer für Geld selbst verstümmelten. Ich wollte nicht wissen, welche weiteren Narben seinen Körper zierten.
Gjertsen war um die fünfzig und damit der älteste der Erdfahrer. Der ehemalige Steinkohlenarbeiter litt unter einem Alkoholproblem, weshalb er ausschließlich in Wasser aufgelöstes Milchpulver trank. Darüber hinaus verweigerte er jede Nahrung und war bereits zahnlos und magersüchtig. Mittlerweile brachte er nicht einmal vierzig Kilo auf die Waage. Der Auslöser für dieses Leben dürfte ein Grubenunglück gewesen sein, bei dem Gjertsen zwei Wochen lang verschüttet gewesen war. Unter Tage waren ihm Stimmen und Visionen erschienen oder andere religiöse Erlebnisse widerfahren – nichts weiter als Wahnvorstellungen, die bei Wasserentzug und Sauerstoffmangel schon mal auftreten konnten. Seitdem hatte er dem
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