Das Eulentor
öffnete Brehms Hemd und fühlte seinen Puls. Er war kaum spürbar, nur ein leises Pochen tief im Körper. Hansen half mir, Brehm auf die Seite zu rollen, um seinen Körper nach offensichtlichen Verletzungen abzusuchen. Doch nichts! Trotzdem würde mir der Mann binnen Minuten unter den Fingern wegsterben, wenn ich nicht rasch etwas unternahm. Brehm war glühend heiß, in Schweiß gebadet und stark dehydriert. Das Fieber ließ seinen Körper erzittern. Wie unter schmerzvollen Muskelkrämpfen bäumte er sich auf. Ein Anfall jagte den nächsten, ohne daß Brehm zur Ruhe kam.
»Ich brauche Tücher und kaltes Wasser.«
Nilsen stand reglos da und starrte mich an. »Woher …?«
»Lauf raus und hol einen Kübel Schnee!« herrschte ich ihn an.
Die Riese setzte sich in Bewegung. Währenddessen begannen Brehms Hände zu zucken, die Finger verhedderten sich im Stoffbezug der Liege. Noch bevor ich seine verkrampften Hände lösen konnte, brachen die Fingernägel ab.
»Herrgott, Marit!« tobte ich. »Die Tasche!«
Brehm bäumte sich erneut auf. Hansen stützte sich auf seine Beine, um ihn ruhigzustellen.
»Was ist mit ihm?« Hansen blickte entsetzt auf Brehms zuckenden Körper.
»Womöglich ein Anfall von Raserei oder Schwindsucht. Vielleicht hat er auch Typhus, eine Leberzirrhose oder Schwefelvergiftung, ich weiß es nicht.«
Vorsichtig tastete ich Brehms Oberköper und Glieder nach Knochenbrüchen ab, doch er schien völlig gesund. »Möglicherweise hat er innere Blutungen. Haben sich die Hunde ähnlich verhalten, nachdem ihr sie nach oben geholt habt?«
»Ja … nein, es war anders«, stammelte Hansen. »Sie haben sich das Fell büschelweise ausgebissen. Was ist mit ihm?«
Ich antwortete nicht. Im Moment wies Brehm keine ungewöhnlichen Symptome auf, doch hatte ich sie noch nie gleichzeitig und in dieser Intensität erlebt. Erst als sich der Hauch auf Brehms Brillengläsern legte, bemerkte ich das Erschreckende. Die Pupillen hatten sich zu zwei winzigen Punkten zusammengezogen. So etwas hatte ich noch nie gesehen.
»Rasch, den Raum verdunkeln!« befahl ich auf Norwegisch.
Gjertsen löschte bis auf eine Petroleumlampe alle Lichter. Sogleich entspannte sich Brehms verkrampfter Körper. Sein Kopf sank nach hinten. Er versuchte etwas zu sagen, brachte jedoch keinen Ton heraus.
»Zur Seite!« Endlich stürzte Marit mit meiner Tasche herein.
Ich injizierte Brehm eine Ampulle Morphium in die Armbeuge und gab ihm anschließend ein Beruhigungsmittel sowie ein entzündungshemmendes Medikament. Mit feuchten Tüchern kühlten wir seinen Körper und wickelten seine Beine in mit Essig getränkte Putzlappen, die Gjertsen irgendwo aufgetrieben hatte. Danach verband ich Brehms blutige Fingerstümpfe. Als das Morphium zu wirken begann, schlief er endlich ein.
Ich fiel erschöpft auf einen Stuhl. Marit, Hansen und die Männer standen mir gegenüber. Rönne versuchte einen Schluck aus einem Flachmann zu nehmen. An seinen zitternden Fingern sah ich, daß auch ihn der Vorfall ziemlich mitnahm.
»Das Projekt ist vorerst abgebrochen. Bis auf weiteres gibt es keine Fahrten in den Schacht«, brachte ich mit schwacher Stimme hervor.
Hansen zog die Augenbrauen zusammen. »Aber …!«
»Wir müssen abwarten, bis Brehm ansprechbar ist!« unterbrach ich ihn. »Danach entscheiden wir, wie es weitergeht.«
Hansen biß sich auf die Unterlippe. Was immer der Walfänger sagen wollte – ich würde es nie erfahren, denn er machte kehrt und humpelte aus dem Raum.
*
Während der gesamten Nacht gab ich Brehm viel zu trinken, wechselte seine Wasser- und Essigumschläge und kühlte seinen Körper mit Schnee, da das Fieber ständig zunahm. In dieser Zeit wich Marit nicht von seiner Seite.
Als ich um vier Uhr morgens meinen Routinebesuch machte, schlief Brehm immer noch – das Gesicht so grau, als habe es Asche darauf geregnet.
Marit saß daneben und hielt seine bandagierte Hand. »Sie haben Brehm das Leben gerettet. Ohne Sie wäre er gestorben.«
Ich setzte mich zu ihr. »Warten wir ab! Noch hat er die Nacht nicht überstanden.«
In der Station war es totenstill. Alle schliefen, nur der Sturm heulte um die Hütten.
Ich betrachtete Marit von der Seite. »Was um alles in der Welt hat Sie an einen Ort wie diesen verschlagen?«
»Ist es hier so schrecklich?« fragte sie, doch mein Blick schien ihr Antwort genug. »Ich kam direkt aus der Hölle. Hier kann es nicht schlimmer sein.«
»Es gibt immer einen Ort, der schlimmer ist«,
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