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Das Eulentor

Das Eulentor

Titel: Das Eulentor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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zierlichen Figur auf den ersten Blick nicht als junge Frau erkannt. Marits blondes Haar steckte unter einer Kappe. Bloß einige Strähnen hingen hervor, aus denen ein paar Strohhalme von den Hundeställen ragten. Ihre Wangen waren rußverschmiert und die Fingernägel genauso dreckig wie die der Männer. Auch sie trug einen Rollkragenpullover, eine graue Latzhose und feste Schuhe mit Metallkappen. Erst auf den zweiten Blick fielen mir ihre fein geschwungenen Lippen auf, die kleine Stupsnase mit den Sommersprossen, die langen Wimpern und die schönen, dunkelbraunen Augen. Würde man das Mädchen in eine Badewanne tauchen, danach ordentlich kämmen und, anstatt in eine ölverschmierte Arbeitsmontur in ein Kleid stecken, würde es wohl eine adrette, junge Dame abgeben. Aber ich vermutete, daß sie genau das zu vermeiden suchte – zumindest an einem Ort wie diesem.
    Als die Schachtarbeiter ihr Kartenspiel beendet hatten, ging ich rüber, um jedem die Hand zu reichen – Marit als erster.
    »Ein wahrer Gentleman«, murrte Nilsen auf Norwegisch. »Herr Berger hat wohl gleich erkannt, daß du kein häßlicher Junge bist, obwohl du so aussiehst.«
    Alle lachten, nur Marit zog eine Schnute.
    Obwohl sie meinen Namen kannten – offensichtlich hatte Hansen meinen Besuch angekündigt – stellte ich mich vor. Anschließend setzte ich mich zu ihnen, worauf wir gleich auf den Schacht zu sprechen kamen, teils auf Norwegisch, teils auf Deutsch.
    Die Erdfahrer nannten den Schacht, wie Brehm einst vor Jahren, das Bauwerk. Bloß Gjertsen, der schweigsame, dürre Priester, der nur dann den Mund aufmachte, wenn er wirklich etwas zu sagen hatte, bezeichnete den Schacht als Von-Hansen-Schacht und den Abschnitt, der ab dem siebzigsten Kilometer begann, als die sogenannte Von-Hansen-Zone. Ich wußte nicht weshalb. Entweder weil Jan Hansen die Leitung der Erdfahrer übernommen hatte und sie ihm bedingungslos ergeben waren, oder weil dessen Bruder Carl Friedrich von Hansen zu unserem größten Financier und Arbeitgeber geworden war.
    Obwohl Gjertsen nicht viel sprach, schienen er und Marit mir noch am besten gesonnen zu sein. Im Gegensatz dazu waren Rönne, und das Brüderpaar Björn und Nilsen von einem anderen Kaliber. Sie machten zwar derbe Scherze, brüllten lautstark und verhielten sich wie Bauarbeiter in einem Lokal, doch achteten sie auf jede meiner Bewegungen und Gesten, als wollten sie mich studieren. Für sie mußte meine Anwesenheit auf der Insel wie ein Kontrollbesuch wirken. Möglicherweise ließen ihnen Hansen und Brehm jegliche Freiheiten, und nun fürchteten sie, daß sich etwas ändern könne.
    Plötzlich hallte ein Schrei durch die Station.
    »Mann verletzt!«
    Hansens Stimme! Sie kam vom Schachtraum.
    Die Männer im Kasino verstummten und blickten zur Tür. Ich sprang als erster auf und lief aus dem Raum. Hinter mir polterten Stühle zu Boden. Die Männer folgten mir. Während ich durch den Korridor lief, bemerkte ich, daß der Dieselmotor tuckerte. Die Stunde war um! Brehm mußte oben angekommen sein.
    Ich stürzte in den Schachtraum. Hier war es deutlich kälter als in der restlichen Station. Auch stank es penetrant nach Schwefel. Hinter dem Bretterverschlag befand sich das Loch im Felsplateau. Darüber war die erste Gondel bis zur Decke hochgezogen, darunter hing die zweite.
    »So helft mir doch!« Hansen hievte einen schlaffen Körper aus dem Käfig, während er sich auf einer Krücke abstützte. Sogleich packte ich mit an. Gemeinsam zerrten wir Brehm aus der Gondel.
    »Da rüber, auf die Trage!« keuchte ich. Zu zweit hoben wir ihn hoch.
    Brehm sah schrecklich aus. Ich hätte ihn kaum wiedererkannt. Der Ingenieur trug zerschlissene Kleider, Hosenträger und ein Holzfällerhemd mit aufgerollten Ärmeln. Er war unrasiert und abgemagert. Es fehlte nicht viel, und er sah so ausgezehrt wie Gjertsen aus. Aber mehr schockierte mich Brehms Gesichtsausdruck. Sein Haar war ergraut, die Haut aschfarben. Seine Brille war beschlagen und hatte einen Sprung im Glas. Dahinter starrten zwei geweitete Augen hilflos umher, ohne etwas zu erkennen. Gleichzeitig riß Brehm verzweifelt den Mund auf, als bekomme er keine Luft.
    Die Männer drängten sich um mich und murmelten allesamt durcheinander.
    »Zurück!« rief ich. »Marit, die Arzttasche aus meinem Zimmer. Rasch!«
    Das Mädchen setzte sich in Bewegung.
    »Habt ihr nicht gehört, was Herr Berger gesagt hat?« brüllte Hansen. »Zurück!«
    Er drängte die Männer zur Seite. Ich

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