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Das Eulentor

Das Eulentor

Titel: Das Eulentor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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kälter. Auch der Sauerstoffgehalt bleibt gleich, nicht einmal die Schwerkraft verändert sich. Ein Kilo bleibt ein Kilo, obwohl wir es siebzig Kilometer unter der Erdoberfläche wiegen. Mir ist das egal, aber Brehm treibt es in den Wahnsinn. Er spricht über nichts anderes mehr. Und nirgends gibt es Hinweise auf Konstruktionspläne, wie der Schacht entstanden ist, wer ihn gebaut haben könnte oder was sein Zweck ist …«
    Bis auf den neuen Tiefenrekord waren das alles keine wirklich neuen Erkenntnisse. Hansen versuchte mich hinzuhalten, oder langsam auf etwas vorzubereiten, das ich noch nicht wußte. Jedenfalls ahnte ich bereits, daß während meiner Abwesenheit etwas schiefgelaufen sein mußte – und als Hansen nicht aufhörte, nervös seine Mütze zu kneten, wurden meine Befürchtungen schlimmer.
    »Vor einigen Wochen sind wir auf das erste Problem gestoßen, das unüberwindbar scheint.«
    »Lava?« fragte ich, obwohl ich wußte, daß es das nicht sein konnte.
    Hansen schüttelte den Kopf. »Der zunehmende Luftdruck. Brehm hat es mir so erklärt: Je tiefer wir gehen, desto höher wird der Druck im Kopf.« Er tippte sich an die Schläfen. »Dadurch werden Gase im Blut gelöst. Beim Aufstieg gibt das Blut die Gase wieder ab. Es perlt wie beim Auftauchen aus dem Wasser auf. Der Körper verändert sich, wird regelrecht vergiftet. Die ständigen Abstiege führen zu einem vermehrten Kaliumgehalt im Blut – und das dürfte nicht gesund sein …« Hansen verstummte.
    Obwohl mein Medizinstudium Jahre her war, wußte ich noch einige Sachen darüber. Die von Hansen beschriebenen Anzeichen wie sinkender Blutdruck oder steigender Puls würden sich in weiterer Folge zu Krämpfen, Kopfschmerzen, Muskelzuckungen oder einem Schwindelgefühl entwickeln – zu Symptomen, die keinen ungefährdeten Einsatz im Schacht mehr zuließen. Die permanente Belastung des Herzmuskels und des Gehirns würde eine Bewußtlosigkeit oder zumindest einen Kreislaufschock bewirken. Schlimmstenfalls konnten die Herzrhythmusstörungen sogar zum Tod führen. Wieder dachte ich an Dr. Webers Diagnose.
    »Ab welcher Tiefe setzen diese Zustände ein?«
    »Die Schwelle beginnt etwa nach sechzig Kilometern.« Hansen verstummte.
    Eigentlich war ich auf die Insel gekommen, um von den großartigen Budgetplänen des nächsten Jahres zu berichten, doch je länger ich Hansens Beschreibung zuhörte, desto mehr kam ich zu dem Schluß, daß es Zeit wurde, das Experiment nicht gerade abzubrechen, aber zumindest langsamer anzugehen.
    »Das ist noch nicht alles, oder?« fragte ich.
    Er schüttelte den Kopf. »Du erinnerst dich doch, daß wir zwei Jahre lang jeden Zentimeter Felswand nach einem Hinweis oder einer Botschaft abgesucht haben. Bis auf die Eulennester haben wir nie etwas gefunden. Doch jetzt, wo wir die Schienen für den siebzigsten Kilometer verlegen, sind wir fündig geworden.«
    Irgendwie spürte ich, daß es nicht angebracht war, großartig zu rufen. Ohne zu unterbrechen hörte ich weiter zu.
    »Dort unten ist Christiansons Antlitz in den Fels gebrannt.«
    »Christiansons Antlitz?« Ungläubig starrte ich ihn an.
    »Du müßtest es sehen, es ist erschreckend. Wenn man lange genug in die Augen starrt, ist es, als würde man in seine Seele blicken.«
    »Die Augen sind das Tor zu Seele«, flüsterte ich. Etwas Besseres fiel mir nicht ein.
    Hansen sah mich verwundert an. »Brehms Worte!«
    Unwillkürlich griff ich nach der Halskette, an der mein Glücksbringer hing: Christiansons Walfischknochen. Vor knapp drei Jahren war der junge Schwede kopfüber in den Schacht gestürzt, als uns mitten in der Nacht der Boden unter den Füßen weggebrochen war und das Zelt mit sämtlichen Vorräten und Kisten verschluckt hatte.
    »Wie ist dieses Antlitz entstanden?«
    »Wenn wir das wüßten!« Hansen knetete die Wollmütze. Schließlich legte er sie beiseite und nahm einen weiteren Schluck. »Brehm ist seit drei Tagen unten. Morgen kommt er rauf. Wir fahren regelmäßig mit einem zweiten Käfig im Parallelbetrieb runter, um ihm frische Verpflegung und Wasser zu bringen … ja, das mit dem Wasser ist auch so eine Sache. Dort unten verdampft es unglaublich schnell. Jedenfalls sind im Moment alle Bauarbeiten eingestellt, weil Brehm das Antlitz untersucht.« Hansen machte eine Pause. »Ich sage dir eines … in siebzig Kilometern Tiefe beginnt etwas. Ab da ist alles anders.«
    »Was ist anders?« fragte ich, obwohl ich nicht sicher war, daß ich es überhaupt hören

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