Das Eulentor
doch ich preßte seine Arme auf die Liege, worauf er sich weiter durchbog. Es kostete mich meine ganze Kraft, ihn ruhig zu halten.
»Es brennt!«
»Marit schnell, die Injektion!«
Für alle Fälle hatte ich eine doppelte Morphiumdosis vorbereitet. Während Marit ihn niederhielt, injizierte ich Brehm das Medikament. Eine Minute später lag er tot auf der Trage.
Dieser Anblick und die Gewißheit, daß der kommende Morgen der schlimmste meines Lebens werden würde, ließen mein Herz zu einem Eisklumpen gefrieren. Ich hatte die Station zu spät erreicht. Wäre ich doch mit dem Schiff eine Woche früher angekommen. Ich hätte Brehms Abstieg und seinen Tod verhindern können. So aber hatte der verdammte Schacht ein weiteres Opfer gefordert. Sein letztes – wie ich mir schwor! Denn ab sofort war es endgültig vorbei. Noch vor Mittag würde ich alle Aktivitäten abbrechen, den Norwegern ihren ausständigen Lohn bezahlen und ihre Heimfahrt organisieren. Dieses Projekt durfte unter keinen Umständen fortgesetzt werden.
Als suchte ich nach einer Bestätigung für die Richtigkeit meiner Entscheidung, hob ich Brehms Augenlid. Die Pupille war komplett verschwunden. Statt dessen hatte der gesamte Augapfel einen dunkel glänzenden Farbton angenommen, als habe sich der Schädel mit pechschwarzer Tinte gefüllt.
DREIZEHNTES KAPITEL
W ir schrieben den 31. Juli. Björn und Nilsen hatten abwechselnd mit dem Spaten gearbeitet und das frische Grab ausgehoben. Wir beerdigten Brehm hinter der Station neben den drei Hügeln im Eis.
Bevor wir den aus Holzbohlen gezimmerten Sarg in die Grube hinabließen, legte ich Brehm einen Gegenstand in seine letzte Ruhestätte. In dem hohlen Globus seiner Kammer hatte ich jene zerschlissene, in Leder gebundene Bibel gefunden, auf die er immer so große Stücke gehalten hatte. Als ich das Buch aufschlug, fiel mir die mit einem Eselsohr eingeknickte Seite im Matthäus-Evangelium auf. Brehm hatte eine kurze Textstelle darin markiert, als habe er bereits geahnt, daß er sterben würde. Es war jene Passage über das Herausreißen des rechten Auges, die er kurz vor seinem Tod zitiert hatte.
Ich bettete das Buch unter die gefalteten Hände des Toten, worauf Gjertsen den Sargdeckel schloß und die beiden Brüder das Grab zuschaufelten. Ein schlichtes Kreuz, ein Windlicht und eine gerahmte Photographie steckten im gefrorenen Boden. Mehr konnten wir für Brehm nicht tun. Als wir schweigend um den Hügel standen, übernahm Gjertsen die Rolle des Priesters. Niemand widersetzte sich, und mir war es nur recht, da er mir eine Last abnahm.
»Herr, wir haben gesündigt und die Schwelle zur Hölle überschritten …« Gjertsens Blick starrte ins Leere. Gedankenverloren wischte er sich mit dem Wollhandschuh über den Mund, ehe er fortfuhr. »Dort unten liegst du, im Schlund der Erde: Sodom, die sündige Stadt, die Pforte zur Unterwelt, und der Sprößling dessen, was war und ewig sein wird – geboren aus den Tunneln der Erde. Auf Maden ist er gebettet, und seine Decken sind Würmer.« Er machte eine Pause, als wolle er Kraft schöpfen, ehe er weitersprach: »Bis in die Hölle wird er hinabsteigen, der Unbußfertige. In das unterste Loch! Ins Totenreich! Hinabgeworfen, ohne ein Grab, wie ein verachteter Sproß, bedeckt mit Erschlagenen, Schwertdurchbohrten, die hinabsteigen zu den Steinen der Grube, wie zertretenes Aas. Ich will es machen zum Besitztum von Eulen und zu Schilftümpeln und es mit dem Besen der Vernichtung hinwegfegen … so lautet der Spruch des Herrn. Jesaia im Alten Testament.«
Ich wartete noch eine Weile, aber nach dieser sonderbaren Rede folgte nichts Persönliches mehr über Gottfried Brehm. Niemanden schien das zu stören. Schließlich wandten sich Marit und die Männer der Reihe nach wortlos ab und stapften zur Station. Ich blieb noch einige Minuten. Wenigstens ich wollte in Gedanken einige Worte zu Brehm sprechen und ihn um Vergebung bitten.
*
Nachdem ich den Männern im Kasino das offizielle Ende der Arbeit verkündet hatte, verschwand ich in meine Kammer, um meine Sachen zu packen. Anschließend begab ich mich noch einmal in Brehms Stube, wo ich versuchte, einen Überblick über die letzten Forschungsergebnisse zu gewinnen. Ich brauchte knapp zwei Stunden, um mich in dem Chaos aus Schriftstücken, achtlos hingekritzelten Notizen, Photographien, Tonaufnahmen auf magnetischen Bändern, numerierten Knochensplittern und den in Spiritus eingelegten Torsi aus den
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