Das Eulentor
Eulennestern zurechtzufinden. Das Ergebnis seiner Arbeit war erschreckender als ich befürchtet hatte: Aus dem einst so rationalen Mann war ein verwirrter und von Wahnideen besessener Mensch geworden. Die mit krakeliger Handschrift verfaßten Berichte der letzten Monate dienten höchstens dazu, seinen absonderlichen Geisteszustand zu dokumentieren. Darin war etwas über Schattenwellen zu lesen, den merkwürdigen Luftzug, das Geräusch des Flügelschlagens, den grünen Schwefeldunst, die Notwendigkeit der Eulen im Schacht, den möglichen, geheimen Zugang in den Abgrund der Hölle zu bewachen und darüber, daß sich der Schacht mit Energie auflade, daß er lebe, niemals konstant bleibe, sondern sich ständig verändere, ausdehne, zusammenziehe, und daß er vor allem die Seelen fraß. Mit wissenschaftlicher Forschung hatte dieser Wahnsinn schon lange nichts mehr zu tun. Ich wunderte mich, weshalb Hansen in keinem seiner Briefe Brehms beginnenden Irrsinn erwähnt hatte. Entweder war ihm diese Veränderung nicht aufgefallen, oder Hansen war ebenfalls von der Richtigkeit dieses Schwachsinns überzeugt.
Unter einem Stapel von Unterlagen fand ich sogar jenes Buch, das mir einst Doc Travis geschenkt hatte, den Band Mythologica von der Gräfin Roberta De Sica. Brehm hatte ihn sich angeeignet und jene Stelle gefunden, die mich vor Jahren selbst so fasziniert hatte. Die Eulen sind nicht das, was sie scheinen. Daneben hatte Brehm einige Notizen geschrieben, die ich beim besten Willen nicht entziffern konnte. Schließlich packte ich die meiner Meinung nach wichtigsten Protokolle zusammen, verstaute sie in einem leeren Schrank und versperrte den Raum. In vier Tagen legte Kapitän Andersons Schiff an. Bis dahin würde ich die gesamte Station dichtgemacht, sowie die wichtigsten Abschlußprotokolle und einen erklärenden Brief an alle Vorstände der Finanzgruppe verfaßt haben.
Als ich am Abend mit den Lohnzetteln und dem restlichen Geld, welches die Männer bis zum Monatsende erhalten sollten, ins Kasino gehen wollte, humpelte Hansen eilig aus seiner Kammer, um sich mir in den Weg zu stellen. Der Walfänger sah grimmiger drein denn je. Ich hatte seit den Morgenstunden pochende Kopfschmerzen, doch ihm war die Müdigkeit der vergangenen, schlaflosen Nacht nicht anzusehen. Statt dessen funkelten seine Augen wie Kohlensplitter. Sein Gesicht war zu einer bitteren Grimasse verzerrt.
»Ich habe den Männern befohlen, weiterzumachen«, sagte er knapp. »Ich wollte dich schon eher informieren, aber du hast dich den ganzen Tag in Brehms Kammer verkrochen.«
Sprachlos starrte ich ihn an. Dieser Idiot! Wie konnte er Dinge anordnen, die ihm gar nicht zustanden?
»Von mir aus kannst du nach Hause fahren«, sprach er weiter. »Aber wir setzen die Arbeit hier fort!«
Ich atmete tief durch. »Du widersetzt dich also meiner Entscheidung.«
»Welcher Entscheidung? Du hast hier nichts mehr zu sagen! Nicht, nachdem du ein ganzes Jahr lang fort warst.«
»Ja, ich war fort!« rief ich. »In dieser Zeit habe ich das Unternehmen am Leben erhalten! Wer, denkst du, hat das Geld für eure Arbeit aufgetrieben? Ich habe Tag und Nacht geschuftet, habe meine Familie vernachlässigt, bin durch halb Europa gereist, um mich mit Firmenvorständen zu treffen und Pläne auszuarbeiten. Aber jetzt sage ich: Es ist Schluß! Das Projekt ist zu gefährlich geworden.«
»Wie kannst du die Lage hier beurteilen? Du bist schon seit anderthalb Jahren nicht mehr im Schacht gewesen!«
»Das stimmt, aber trotzdem bin ich nicht blind. Ich sehe doch, was hier vorgeht! Aber du bist völlig verblendet. Du bist schon zu lange auf dieser Insel, ohne Pause, ohne Abwechslung.«
»Ich mache nur meine Arbeit, für die ich scheinbar nicht mehr gut genug bin!« brüllte Hansen. »Aber wenn du so schlau bist, dann erzähl mir doch, was hier vorgeht!«
»Du hast selbst gesagt, daß da unten etwas ist, das dir Angst einjagt. Auch die Männer haben Angst, runterzugehen – trotzdem tun sie es. Aber langsam greift ein Wahn nach ihnen, als litten sie an einem Tiefenrausch oder Schlimmeren. Wir sollten es gemächlich angehen, Labortiere runterschicken, neue Testreihen mit modernen Messungen durchführen, Fachleute hinzuziehen und einmal die alten Protokolle richtig auswerten und von diesen Hirngespinsten ausmisten. Aber nein! Ein Haufen Deserteure, Wetteiferer, Alkoholsüchtiger und religiöser Fanatiker geht runter, um sich gegenseitig zu überbieten, als wollten sie einen Rekord brechen.
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