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Das Eulentor

Das Eulentor

Titel: Das Eulentor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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entgegnete ich. »Was machen Sie, wenn die Arbeit hier beendet ist?«
    Sie zuckte mit den Achseln. »Nach Norwegen kann ich nicht zurück.«
    »Ich weiß, ich habe Ihre Akte gelesen.«
    Sie starrte lange Zeit auf den Boden. »Er hat es nicht anders verdient«, murmelte sie schließlich. »Es wäre das Beste für alle gewesen, wenn er im Krankenhaus gestorben wäre, aber die Ärzte haben ihn zusammengeflickt. Sollte ich ihm noch einmal begegnen, werde ich ihn töten.«
    »Sie sprechen von Ihrem Großvater?« vermutete ich.
    Sie nickte. »Mein Vater starb an Tuberkulose, als ich noch klein war. Von da an kümmerte sich mein Großvater um die Familie. Ich wußte, es konnte nicht gutgehen, denn er hatte schon immer ein Auge auf meine Mutter geworfen. Nicht einmal einen Monat nach der Beerdigung meines Vaters ging es los. Da sein Sohn gestorben war, dachte der Alte, er besitze das Recht dazu. Von da an hörte ich ihn nachts immer in der Kammer meiner Mutter. Anschließend weinte sie. Als ich älter wurde, wollte sie mir erklären, daß es keinen anderen Weg gäbe, da wir von Großvater finanziell abhängig waren.« Marit sah kurz auf. »Aber es gibt immer einen anderen Weg.«
    »Wie ging es weiter?«
    »Mutter wurde erneut schwanger, worauf er es bei mir versuchte. Aber ich wehrte mich, und er schlug mir ins Gesicht.« Sie zog die Oberlippe hoch. Zwei Schneidezähne fehlten. »Als er mich ein zweites Mal mißbrauchen wollte, griff ich nach dem Schürhaken, den ich seitdem unter meinem Rock versteckt hielt.« Sie atmete tief durch. »Das war’s. Ich mußte aus Hammerfest fliehen. Ein Schiff nahm mich runter nach Tromsø, wo ich hörte, daß auf Spitzbergen Männer gesucht wurden. So bin ich hier gelandet.«
    Wie schrecklich diese Geschichte war! Marit hatte eine Hölle verlassen, um eine andere zu betreten. Männer wie Hansen, Björn, Nilsen oder Rönne konnten damit umgehen, doch Marit würde daran zerbrechen. Ich mußte sie so schnell wie möglich von dieser Insel fortschaffen, ehe es zu spät war.
    »Sie sollten jetzt schlafen gehen«, sagte ich. »Sie haben mir schon mehr als genug geholfen.«
    »Ich bleibe hier. Aber Sie sollten sich ausruhen.«
    Marit hatte recht. Ich war von der Schiffsreise und den Ereignissen auf der Station todmüde. Ich nickte. Sie holte mir eine Decke, ich schob zwei Stühle zusammen, lehnte den Kopf an die Bretterwand und schloß die Augen. Während ich schlief, wachte Marit über Brehm.
    Ich wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war, als mich ein Wispern weckte.
    »Herr Berger.«
    Ich öffnete die Augen. Marit zupfte an meinem Hemd. Sogleich war ich hellwach.
    Brehm bewegte sich. Seine Lippen waren spröde, aufgesprungen und von blutigen Rissen durchzogen. Er versuchte zu sprechen. Ich ging näher heran, um etwas zu verstehen, doch aus seinem Mund drang nur unverständliches Gemurmel.
    »Brehm!« flüsterte ich. »Ich bin es, Berger.«
    Sein Kopf zuckte herum. Die weißen Augäpfel mit den stecknadelkopfgroßen Pupillen starrten mich an, doch ich hatte nicht das Gefühl, daß er mich erkannte.
    »Berger …«, hauchte er plötzlich. »Die Kinder des Reiches werden ausgestoßen in die Finsternis hinab … ich habe sie gesehen, diese Finsternis.«
    »Schonen Sie sich.« Ich legte ihm die Hand auf die Stirn. Sie glühte wie eine Herdplatte.
    »Es brennt«, flüsterte er. »Wenn dir dein rechtes Auge zum Ärgernis wird, so reiß es aus und wirf es von dir, denn es ist besser, daß ein Teil verlorengehe, als daß dein ganzer Leib in der Hölle brennt.« Er bäumte sich auf. »Wenn dir deine rechte Hand zum Ärgernis wird, so hau sie ab und wirf sie von dir …«
    »Beruhigen Sie sich!«
    Seine Augen irrten umher, blickten jedoch ins Leere.
    »Ich habe eine Tiefe erreicht, in der ich die Schattenwellen spüren konnte. Dieses häßliche, ekelhafte Grün! Ich dachte, ich könne es mit meinem Intellekt bezwingen, aber ich bekomme es nicht mehr aus meinem Kopf. Es verbrennt mich von innen.«
    Marit wurde kreidebleich. Sie schluckte mit trockenem Mund.
    »Er phantasiert. Das ist das Morphium«, beruhigte ich sie.
    »Ich habe die Schattenwellen auch gespürt«, hauchte sie.
    »Was? Wovon sprechen Sie?« Doch weiter kam ich nicht.
    »Da!« Marit zeigte auf Brehms Gesicht.
    Seine Pupillen zerflossen. Ich konnte mit ansehen, wie sich die stecknadelkopfgroßen Punkte ausdehnten und die Augäpfel schwarz färbten. Brehm bäumte sich auf. Er wollte sich die Augen mit den bandagierten Fingerkuppen rausreißen,

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